Nr. 327, der inmitten dieses Trubels steht, weiß nicht, an wen er sich wenden soll. Er stößt einen schwachen Duft in Richtung einer Amme aus, die einem Neugeborenen hilft, die ersten Schritte zu tun.
Es geschieht etwas Wichtiges.
Die Amme wendet nicht einmal den Kopf. Sie gibt einen Satz von sich, dessen Duft kaum wahrnehmbar ist.
Pst. Es gibt nichts Wichtigeres als die Geburt eines Wesens.
Eine Artilleristin stößt ihn zur Seite, indem sie mit den keulenartigen Enden ihrer Antennen auf ihn einklopft. Tip, tip, tip.
Sie dürfen nicht stören. Gehen Sie.
Er hat nicht das richtige Niveau an Energie, er vermag andere nicht zu überzeugen. Ah, wenn er die Begabung von Nr. 56 hätte! Dennoch versucht er sein Glück bei anderen Ammen, doch sie schenken ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Allmählich fragt er sich, ob seine Mission wirklich so bedeutsam ist, wie er glaubt. Vielleicht hat Belo-kiu-kiuni recht. Es gibt wichtigere Aufgaben. Zum Beispiel das Leben zu erhalten, fortzupflanzen, statt einen Krieg vom Zaun zu reißen.
Während er noch bei diesem merkwürdigen Gedanken ist, streift ein Strahl Ameisensäure seine Antennen! Eine Amme hat ihn abgefeuert. Sie hat den Kokon fallen lassen, der ihr anvertraut war, und auf ihn angelegt. Zum Glück hat sie schlecht gezielt.
Er saust los, um die Terroristin zu fassen, aber sie ist bereits in die erste Krippe davongelaufen und hat einen Stapel Eier umgestoßen, um ihm den Weg zu versperren. Die Schalen zerbrechen und geben eine transparente Flüssigkeit frei.
Sie hat Eier zerstört! Was ist in sie gefahren? Es herrscht helle Aufregung, die Ammen laufen kreuz und quer, voller Sorge, die im Entstehen begriffene Generation zu schützen.
Nr. 327 erkennt, daß er die Flüchtige nicht einholen kann. Also schiebt er den Hinterleib unter seinen Thorax und legt seinerseits an. Aber bevor er zum Schießen kommt, wird sie bereits von einer Artilleristin getroffen, die sie beobachtet hat, als sie die Eier umstieß.
Ein Auflauf bildet sich um den von der Ameisensäure verätzten Körper. Nr. 327 neigt seine Antennen über den Kadaver. Kein Zweifel, er verströmt einen schwachen Geruch. Einen Felsenduft.
Soziabilität: Bei den Ameisen wie bei den Menschen ist die Soziabilität vorherbestimmt. Die neugeborene Ameise ist zu schwach, um den Kokon, der sie umhüllt, allein zu durchbrechen. Das menschliche Baby ist nicht einmal in der Lage, zu gehen oder sich allein zu ernähren.
Ameisen und Menschen sind zwei Arten, die sich so entwickelt haben, daß sie auf die Hilfe ihrer Umgebung angewiesen sind; sie können nicht allein, von sich aus lernen.
Diese Abhängigkeit von den Erwachsenen ist sicher eine Schwäche, aber sie leitet einen anderen Prozeß ein: den der Suche nach Wissen. Wenn die Erwachsenen überleben können, die Jungen jedoch nicht, sind letztere von Beginn an gezwungen, von den älteren die Vermittlung von Kenntnissen zu verlangen.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
20. UG. Das Weibchen Nr. 56 ist noch nicht dazu gekommen, mit den Bäuerinnen über die Geheimwaffe der Zwerginnen zu reden, denn was sie da sieht, fesselt sie viel zu sehr, als daß sie irgend etwas äußern könnte.
Da die Kaste der Weibchen besonders wertvoll ist, bleiben diese während ihrer ganzen Kindheit in ihrer Kammer eingesperrt. Oft kennen sie von der Welt nicht viel mehr als ein paar hundert Gänge, und nur wenige von ihnen haben sich bereits über das 10. Ober- oder das 10. Untergeschoß hinausgewagt.
Einmal hat Nr. 56 versucht, hinauszugehen und die Große Außenwelt zu betrachten, von der ihr die Ammen erzählt hatten, aber die Schildwachen haben sie zurückgedrängt. Man könne mehr oder weniger ihre Gerüche tarnen, nicht aber ihre langen Flügel. Also haben ihr die Wachen erzählt, daß draußen riesige Ungetüme lauerten. Sie fräßen die kleinen Prinzessinnen auf, die vor dem Fest der Wiedergeburt hinauswollten. Seitdem war Nr. 56 zwischen Neugier und Schrecken hin- und hergerissen.
Im 20. Untergeschoß angelangt, wird ihr klar, daß sie, bevor sie die wilde Große Außenwelt erkundet, noch viele Wunder in ihrer eigenen Stadt zu entdecken hat. Hier sieht sie zum erstenmal die Pilzkulturen.
In der belokanischen Mythologie heißt es, daß die ersten Pilzkulturen im fünfzigtausendsten Jahrtausend, während des Getreidekrieges, entdeckt wurden. Ein Artilleristinnen-kommando hatte eine Termitenstadt eingenommen. Plötzlich stießen sie auf einen Saal mit kolossalen Ausmaßen. In der Mitte erhob sich ein riesiger weißer Kuchen, den die Termitenarbeiterinnen unaufhörlich polierten.
Sie hatten ihn probiert und äußerst schmackhaft gefunden. Das war ... das war wie ein ganzes eßbares Dorf! Gefangene gestanden, daß es sich um Pilze handelte. Tatsächlich leben die Termiten nur von Zellulose; da sie diese jedoch nicht verdauen können, greifen sie auf diese Pilze zurück, um sie assimilierbar zu machen.
Die Ameisen verdauen Zellulose zwar sehr gut und sind nicht auf derlei Tricks angewiesen, aber den Vorteil, solche Kulturen innerhalb ihrer Stadt zu haben, erfaßten sie nichtsdestoweniger: Das gab ihnen die Möglichkeit, Belagerungen und Hungersnöten zu trotzen.
Heute werden in den großen Sälen im 20. UG von Bel-o-kan die Stämme ausgewählt. Die Ameisen verwenden allerdings nicht mehr die gleichen Pilze wie die Termiten, in Belo-kan werden vor allem Lamellenpilze angebaut. Und ausgehend von diesen landwirtschaftlichen Tätigkeiten hat sich eine ganze Technologie entwickelt.
Nr. 56 irrt zwischen den Beeten dieses weißen Gartens umher. Auf einer Seite bereiten Arbeiterinnen das »Bett« vor, auf dem der Pilz wachsen wird. Sie schneiden Blätter in kleine Vierecke, die anschließend zerkratzt, zerstoßen, durchgeknetet und zu einer Paste verarbeitet werden. Die Blätterpaste wird auf einem aus Exkrementen gebildeten Kompost aufgetragen (die Ameisen sammeln ihre Exkremente in dafür vorgesehenen Becken) und mit Speichel befeuchtet. Die Arbeit, dieses Erzeugnis zum Keimen zu bringen, wird der Zeit überlassen.
Die bereits vergorenen Pasten sind von einem Knäuel weißer eßbarer Fasern umgeben. Dort links sind welche zu sehen. Die Arbeiterinnen begießen sie daraufhin mit ihrem desinfizierenden Speichel und schneiden alles ab, was über den kleinen weißen Kegel hinausragt. Wenn man die Pilze wachsen ließe, würden sie bald den Saal sprengen. Aus den von den Arbeiterinnen mit den flachen Mandibeln abgeschnittenen Fasern wird ein ebenso schmackhaftes wie stärkendes Mehl gewonnen.
Auch dort sind die Arbeiterinnen höchst konzentriert. Nicht das geringste Unkraut, nicht der geringste parasitäre Pilz darf von ihren Anstrengungen profitieren.
Unter diesen nicht gerade günstigen Umständen versucht Nr. 56, einen Antennenkontakt mit einer Gärtnerin herzustellen, die gerade sorgfältig einen der weißen Kegel beschneidet.
Eine große Gefahr bedroht die Stadt. Wir brauchen Hilfe. Wollt ihr euch unserer Arbeitszelle anschließen?
Was für eine Gefahr?
Die Zwerginnen haben eine Geheimwaffe von verheerender Wirkung entdeckt. Wir müssen so schnell wie möglich handeln.
Die Gärtnerin fragt sie sanftmütig, was sie von ihrem Pilz hält, einem schönen Lamellenpilz. Nr. 56 beglückwünscht sie dazu. Die andere bietet ihr an, davon zu kosten. Das Weibchen beißt in die weiße Paste und verspürt sogleich ein heftiges Brennen in ihrer Speiseröhre. Gift! Der Lamellenpilz ist mit Myrmikazin getränkt worden, einer tödlichen Säure, die normalerweise in verdünnter Form als Unkrautvertilgungsmittel verwendet wird. Nr. 56 hustet und spuckt die giftige Speise rechtzeitig wieder aus. Die Gärtnerin hat ihren Pilz fahrenlassen und springt ihr mit geöffneten Mandibeln an die Brust.