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Ästhetik: Was gibt es Schöneres als eine Ameise? Ihre Linien sind geschwungen und edel, ihre Aerodynamik vollkommen. Die gesamte Karosserie des Insekts ist so angelegt, daß jedes Glied perfekt in die dazu vorgesehene Raste paßt. Jedes Gelenk ist ein mechanisches Wunder. Die Platten fügen sich ineinander, als wären sie von einem computergestützten Designer entworfen worden. Da knirscht nichts, da reibt sich nichts. Der dreieckige Kopf zerschneidet die Luft, die langen, elastischen Beine verleihen dem Körper eine bequeme Spannung unmittelbar über dem Boden. Ein italienischer Sportwagen, könnte man sagen.

Die Krallen ermöglichen es ihr, an der Decke zu gehen. Die Augen haben ein Gesichtsfeld von hundertachtzig Grad. Die Antennen erfassen Tausende von Informationen, die für uns unsichtbar sind, und ihre Enden können als Hammer verwendet werden. Der Hinterleib ist voller Taschen, Säcke, Fächer, in denen das Insekt chemische Produkte speichern kann. Die Mandibeln schneiden, kneifen, packen. Ein großartiges inneres Röhrensystem erlaubt es, Duftnachrichten zu hinterlassen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Nicolas wollte nicht schlafen. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Die Nachrichten hatten mit der Mitteilung geendet, daß die Sonde Marco Polo auf dem Rückweg sei.

Schlußfolgerung: Es gab nicht das geringste Anzeichen von Leben in den benachbarten Sonnensystemen. Sämtliche Planeten, die die Sonde aufgesucht hatte, boten nur das immergleiche Bild von felsigen Wüsten oder flüssiger, ammoniakhaltiger Oberflächen. Nicht die kleinste Moospflanze, nicht die geringste Amöbe, nicht die geringste Mikrobe.

»Und wenn Papa recht hat?« sagte sich Nicolas. »Wenn wir wirklich die einzige Form intelligenten Lebens im ganzen Weltall wären?«

Sicher, das war enttäuschend, aber es drohte zu stimmen.

Nach den Nachrichten lief im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt« ein großer Bericht, der sich mit dem Problem der Kasten in Indien befaßte.

»Die Hindus gehören ihr Leben lang der Kaste an, in der sie geboren sind. Jede Kaste hat ihre eigenen Regeln, einen strengen Kode. Regeln, die niemand übertreten darf, ohne von seiner ursprünglichen sowie allen anderen Kasten geächtet zu werden. Um ein solches Verhalten zu verstehen, müssen wir uns erinnern, was .«

»Es ist ein Uhr nachts«, schaltete sich Lucie ein.

Nicolas war mit Bildern übersättigt. Seit dem Problem mit dem Keller hockte er gut vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Das war sein Weg, nicht mehr zu denken und nicht mehr er selbst zu sein. Die Stimme seiner Mutter rief ihn in die schmerzliche Wirklichkeit zurück.

»Na, bist du noch nicht müde?«

»Wo ist Papa?«

»Er ist noch im Keller. Du mußt jetzt schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«

»Au ja, eine Geschichte! Eine schöne Geschichte!«

Lucie brachte ihn in sein Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und löste ihre langen roten Haare. Sie wählte ein altes hebräisches Märchen.

»Es war einmal ein Steinhauer, der war es leid, sich den ganzen Tag damit abzurackern, unter einer heißen Sonne Löcher in den Berg zu hauen. >Ich hab dieses Leben satt. Steine hauen, immer nur Steine hauen, das ist eine Schinderei ... Und diese Sonne, immer diese Sonne! Ah, wie gern wäre ich an ihrer Stelle, ich wäre da oben, allmächtig, ganz heiß und könnte die ganze Welt mit meinen Strahlen überflutenc, sagte sich der Steinhauer. Nun, durch ein Wunder wurde sein Rufen gehört. Und sogleich verwandelte sich der Steinhauer in die Sonne. Er war glücklich, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber wie er genüßlich seine Strahlen überall niedergehen lassen wollte, merkte er, daß sie von den Wolken aufgehalten wurden. >Was habe ich davon, Sonne zu sein, wenn ein paar einfache Wolken meine Strahlen bremsen können! < rief er aus. >Wenn die Wolken stärker sind, bin ich doch lieber eine Wolke statt der Sonne. < Und er wird zur Wolke. Er fliegt über die Welt, zieht dahin, läßt es regnen, aber plötzlich kommt Wind auf und verweht die Wolke. >Ah, der Wind schafft es, die Wolken zu verwehen, also ist er stärker. Ich will der Wind sein<, beschließt er.«

»Und? Wird er der Wind?«

»Ja, und er bläst überall auf der Welt. Er macht Stürme, Böen, Taifune. Aber plötzlich merkt er, daß da eine Mauer ist, die ihm den Weg versperrt. Eine sehr hohe und sehr harte Mauer. Ein Berg. >Was habe ich davon, der Wind zu sein, wenn mich ein einfacher Berg aufhalten kann? Er ist der Stärkste!< sagt er.«

»Dann wird er der Berg!«

»Genau. Und in diesem Moment spürt er etwas, das auf ihn einschlägt. Etwas, was stärker ist als er, was ihn von innen aushöhlt. Das ist ... ein kleiner Steinhauer ...«

»Aaah!«

»Hat dir die Geschichte gefallen?«

»Ja. Mama!« »Bist du sicher, daß du im Fernsehen keine schönere gesehen hast?«

»Nein, Mama.«

Sie lachte und schloß ihn in ihre Arme.

»Sag mal, Mama, glaubst du, Papa gräbt da unten auch?«

»Vielleicht, wer weiß? Jedenfalls scheint er zu glauben, daß er sich in etwas anderes verwandelt, so oft wie er da runtergeht.«

»Fühlt er sich hier nicht wohl?«

»Nein, mein Kind, er schämt sich, arbeitslos zu sein. Er glaubt, es ist besser, Sonne zu sein. Eine unterirdische Sonne.«

»Papa hält sich für den König der Ameisen.«

Lucie lächelte.

»Das geht vorbei. Weißt du, er ist auch ein Kind. Und Kinder sind von Ameisenhaufen immer fasziniert. Hast du denn nie mit Ameisen gespielt?«

»Und ob, Mama!«

Lucie rückte sein Kopfkissen zurecht und küßte ihn.

»Und jetzt leg dich schlafen. Na komm, gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mama.«

Lucie sah die Streichhölzer auf dem Nachttischchen. Er mußte doch noch versucht haben, die vier Dreiecke zu bilden. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und griff nach dem Architekturbuch, in dem die Geschichte des Hauses erzählt wurde.

Zahlreiche Wissenschaftler hatten darin gelebt. Protestanten vor allem. Michel Servet zum Beispiel hatte einige Jahre hier gewohnt.

Eine Passage fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Angeblich war während der Religionskriege ein unterirdischer Gang gegraben worden, um den Protestanten die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen. Ein ungewöhnlich langer und ungewöhnlich tiefer Stollen ...

Die drei Insekten stellen sich zu einem Dreieck auf, um eine absolute Kommunikation zu praktizieren. So brauchen sie ihre Abenteuer nicht zu erzählen, sie wissen augenblicklich, was ihnen widerfahren ist, als wären sie ein einziger Körper, der sich dreigeteilt hat, um besser ermitteln zu können.

Sie vereinigen ihre Antennen. Die Gedanken beginnen zu strömen, zu verschmelzen. Das geht reihum. Jedes Gehirn agiert wie ein Transistor, der die elektrische Nachricht, die er selbst erhält, anreichert und weiterleitet. Drei Ameisengeister, die auf die Art vereinigt sind, übersteigen die schlichte Summe ihrer Talente.

Aber plötzlich ist der Zauber dahin. Nr. 103 683 hat einen schmarotzenden Duft wahrgenommen. Die Mauern haben Antennen. Genauer gesagt zwei Antennen, die durch die Öffnung der Kammer von Nr. 56 hereinlugten. Jemand hört ihnen zu .

Mitternacht. Jonathan war seit genau zwei Tagen in dem Keller verschwunden. Lucie wanderte nervös im Wohnzimmer auf und ab. Sie schaute nach Nicolas, der tief schlief, als sich ihr Blick plötzlich auf etwas heftete. Die Streichhölzer. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dem Rätsel mit den Streichhölzern könnte der Ansatz zu einer Lösung dieses Rätsels stecken, das der Keller darstellte. Vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern .