Die Mörderinnen haben das Manöver durchschaut. Sie untersuchen die Wände, finden ihre Spur und beginnen wie besessen zu graben. Die drei Ameisen nehmen eine abschüssige Kurve. In dieser schwarzen Melasse ist es ohnehin nicht einfach, sich an irgend etwas zu halten. Alle paar Sekunden kommen drei neue Gänge, und zwei andere versperren einander. Da versuche einer, unter solchen Umständen eine verläßliche Karte der Stadt zu zeichnen! Die einzigen Fixpunkte sind die Kuppel und der Baumstumpf.
Die drei Ameisen dringen langsam in das Fleisch der Stadt ein. Mitunter geraten sie an eine lange Liane. In Wirklichkeit ist das Efeu, das die Gärtnerinnen gepflanzt haben, damit die Stadt nicht einstürzt, wenn es regnet. Dann wieder wird die Erde härter, und sie stoßen mit den Mandibeln gegen Steine, so daß ein Umweg geboten ist.
Die beiden Fortpflanzungsfähigen nehmen hinter sich keine Erschütterungen mehr wahr. Das Trio beschließt innezuhalten.
Sie befinden sich in einer Luftblase im Herzen von Bel-o-kan. Ein undurchdringliches, geruchsloses, allen unbekanntes Oval. Eine verlassene hohle Insel. Wer soll sie in dieser Minihöhle aufstöbern? Sie fühlen sich hier wie in dem dunklen Oval des Hinterleibs ihrer Erzeugerin.
Nr. 56 klopft mit den Antennen auf den Schädel ihres Gegenübers, eine Aufforderung zur Trophallaxie. Nr. 327 neigt die Antennen zum Zeichen des Einverständnisses, dann drückt er seinen Mund auf den des Weibchens. Er würgt ein wenig von dem Honigtau hoch, den ihm die erste Schildwache überreicht hat. Nr. 56 fühlt sich augenblicklich gestärkt. Nr. 103 683 klopft ihr ihrerseits auf den Schädel. Sie pressen ihre Lippen aufeinander, und Nr. 56 läßt ein wenig von der Nahrung aufsteigen, die sie gerade geschluckt hat. Anschließend liebkosen und reiben sich die drei gegenseitig. Ah, was ist es - für eine Ameise - angenehm zu geben .
Wenn sie auch neue Kräfte geschöpft haben, wissen sie doch, daß sie hier nicht ewig bleiben können. Der Sauerstoff wird knapp werden, und selbst wenn die Ameisen recht lange ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft und Wärme überleben können, wird sie der Mangel dieser lebenswichtigen Elemente schließlich in einen tödlichen Schlaf sinken lassen.
Antennenkontakt.
Was tun wir jetzt?
Die Gruppe der dreißig Kriegerinnen, die ich für unser Vorhaben gewonnen habe, erwartet uns in einem Saal im fünfzigsten Untergeschoß.
Gehen wir.
Sie nehmen ihre Grabungsarbeiten wieder auf, orientieren sich mit ihrem Johnston-Organ, das die irdischen Magnetfelder registriert. Sie sind fest davon überzeugt, zwischen den Getreidespeichern des 18. UG und den Pilzkulturen des 20. UG zu sein. Doch je tiefer sie gelangen, um so kälter wird es. Wenn die Nacht hereinbricht, dringt der Frost tief in den Boden. Ihre Bewegungen werden langsamer. Schließlich erstarren sie in ihrer grabenden Haltung und schlafen in Erwartung der Erwärmung ein.
»Jonathan, Jonathan, ich bin’s, Lucie!«
Je tiefer sie in dieses Reich der Finsternis hinabsteigt, um so mehr überkommt sie die Angst. Dieser endlose Abstieg über die Stufen dieser gewundenen Treppe hatte sie schließlich in einen seltsamen Zustand versetzt, in dem es ihr vorkam, als dränge sie tiefer und tiefer in ihr eigenes Inneres ein. Sie verspürte jetzt einen dumpfen Schmerz im Bauch, nachdem ihr zunächst eine völlig trockene Kehle, später ein beängstigender Druck am Solarplexus, gefolgt von heftigen Magenstichen zugesetzt hatten.
Ihre Knie, ihre Füße bewegten sich mechanisch weiter. Würden sie auch bald kaputt sein, würde sie dort auch Schmerzen haben, würde sie aufhören, hier runterzugehen?
Bilder aus ihrer Kindheit tauchten wieder auf. Ihre autoritäre Mutter, die in einem fort Schuldgefühle in ihr geweckt hatte, die sie tausendfach zugunsten ihrer niedlichen Brüder benachteiligt hatte ... Und ihr Vater, ein erloschener Typ, der vor seiner Frau zitterte, der jeder Diskussion aus dem Weg ging und zu jedem Wunsch der Königin Mutter ja und amen sagte. Ihr Vater, der Feigling ...
Diese unangenehmen Erinnerungen wichen dem Gefühl, Jonathan gegenüber ungerecht gewesen zu sein. Tatsächlich hatte sie ihm alles vorgeworfen, was sie an ihren Vater erinnerte. Und gerade weil sie ihn ständig mit Vorwürfen überhäufte, schüchterte sie ihn ein, brach sie ihm das Rückgrat, so daß er nach und nach ihrem Vater ähnlich wurde. So hatte der Teufelskreis begonnen. Sie hatte, ohne es zu merken, wieder erschaffen, was sie am meisten haßte: das Paar ihrer Eltern.
Sie mußte aus diesem Kreis ausbrechen. Sie machte sich Vorwürfe wegen all der Rüffel, die sie ihrem Mann erteilt hatte. Sie mußte alles wiedergutmachen.
Sie kreiste weiter nach unten. Die Erkenntnis ihrer eigenen Schuld hatte ihren Körper von seiner Angst und den beklemmenden Schmerzen befreit. Sie kreiste weiter, stieg weiter hinab, bis sie plötzlich fast gegen eine Tür geprallt wäre. Eine schlichte Tür, teilweise mit Inschriften versehen, auf deren Lektüre sie verzichtete. Die Tür hatte eine Klinke, sie öffnete sich, ohne zu knarren.
Dahinter führte die Treppe weiter hinab. Der einzige nennenswerte Unterschied waren die eisenhaltigen Gesteinsadern, die an dem Felsen erschienen. Durch den Kontakt mit durchsickerndem Wasser, das vermutlich von einem unterirdischen Bach herrührte, hatte das Eisen einen braunroten Farbton angenommen.
Dennoch hatte sie das Gefühl, eine neue Etappe in Angriff genommen zu haben. Und plötzlich sah sie im Licht ihrer Stablampe Blutflecken vor ihren Füßen. Die mußten von Ouarzazate stammen. Bis hierhin war der tapfere kleine Pudel also gelaufen ... Überall waren Spritzer, aber es war schwierig, die Blutspuren an den Wänden von den rostfarbenen Eisenadern zu unterscheiden.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Eine Art Prasseln. Es hörte sich an, als kämen lebende Wesen auf sie zu. Die Schritte waren nervös, als seien diese Wesen schüchtern, als wagten sie nicht näher zu kommen. Sie blieb stehen, um mit ihrer Stablampe die Dunkelheit zu erforschen. Als sie sah, woher das Geräusch rührte, stieß sie einen unmenschlichen Schrei aus. Aber da, wo sie war, konnte ihn niemand hören.
Der Tag graut für sämtliche Kreaturen der Erde. Sie setzen ihren Abstieg fort. 36. UG. Nr. 103 683 kennt die Gegend recht gut, sie denkt, daß sie sich gefahrlos hinauswagen können. Bis hierher können ihnen die Kriegerinnen mit dem Felsengeruch nicht gefolgt sein.
Sie geraten in einige völlig ausgestorbene, niedrige Gänge. An einigen Stellen rechts und links sind Löcher zu sehen, alte Getreidespeicher, die seit mindestens zehn Wintern nicht mehr benutzt worden sind. Der Boden ist klebrig. Irgendwie muß hier Feuchtigkeit eindringen. Das ist auch der Grund, warum sich diese als ungesund angesehene Zone in eines der verrufensten Viertel von Bel-o-kan verwandelt hat.
Es stinkt.
Das Männchen und das Weibchen sind nicht besonders beruhigt. Sie spüren die Gegenwart feindlicher Wesen. Antennen, die sie belauern. Die Gegend muß mit schmarotzenden und obdachlosen Insekten gespickt sein.
Sie schreiten mit weit geöffneten Mandibeln durch die unheimlichen Säle und Tunnel. Ein schrilles Quietschen läßt sie zusammenzucken. Ritsch, ritsch, ritsch ... Kein Ton unterscheidet sich von dem andern. Sie vereinen sich zu einem hypnotischen Singsang, der durch die schlammigen Höhlen hallt.
Der Soldatin zufolge handelt es sich um Grillen. Das sei ihr Liebesgesang. Die beiden anderen sind nur halb beruhigt. Es ist schier unglaublich, daß es den Grillen gelingt, die Truppen der Föderation inmitten der Stadt herauszufordern!