Nr. 327 wagt sich als erster vor. Angezogen von der Schönheit der Düfte, die von der Lomechuse ausgehen, leckt er die Haare ihres Hinterleibs. Jene sondern einen Halluzinationen hervorrufenden Saft ab. Verwirrender Umstand: Der Hinterleib der Giftmischerin mit seinen beiden langen Haaren hat exakt die gleiche Form wie ein Ameisenkopf mit den beiden Antennen!
Nr. 56 stürzt auch herbei, aber sie kommt nicht mehr dazu, sich zu laben. Ein Säurestrahl zischt durch die Luft. Nr. 103 683 hat angelegt und geschossen. Der verätzte Käfer windet sich vor Schmerz.
Wortkarg kommentiert die Soldatin ihr Eingreifen:
Es ist nicht normal, dieses Insekt in einer solchen Tiefe anzutreffen. Die Lomechuses können sich nicht durch die Erde graben. Jemand hat sie bewußt hierhergebracht, um uns daran zu hindern, weiterzugehen! Hier ist irgend etwas verborgen.
Die beiden anderen sind betreten, sie können nicht umhin, den Scharfsinn ihrer Gefährtin zu bewundern. Alle drei beginnen zu suchen. Sie suchen lange, verrücken Kieselsteine, schnuppern in den kleinsten Winkeln des Raumes. Es gibt kaum einen Hinweis. Schließlich fällt ihnen jedoch ein Geruch auf, den sie kennen. Der schwache Felsenduft der Mörderinnen. Kaum wahrnehmbar, höchstens zwei, drei Moleküle, aber das reicht. Er kommt von dort drüben. Genau unter diesem kleinen Felsen. Sie kippen ihn um und legen einen Geheimgang frei. Einer mehr.
Nur daß dieser hier eine Besonderheit hat: Er ist nicht durch Erde, auch nicht durch Holz gegraben. Er ist geradewegs in den Granitfelsen geschlagen! Keine Mandibel kann ein solches Material ausgehöhlt haben.
Der Gang ist ziemlich breit, dennoch steigen sie vorsichtig hinab. Nach einer kurzen Strecke gelangen sie in einen weitläufigen Saal, der mit Nahrungsmitteln gefüllt ist. Mehl, Honig, Korn, allerlei Fleisch ... All das in erstaunlichen Mengen, genug, um die Stadt fünf Winter lang zu ernähren! Und das Ganze verströmt den gleichen Felsengeruch wie die Kriegerinnen, die sie verfolgen.
Wie ist es möglich, daß ein so gut gefüllter Speicher heimlich hier eingerichtet worden ist? Obendrein mit einer Lomechuse (??) davor, um den Zugang zu versperren! Diese Information wurde nie unter den Antennen der Meute verbreitet .
Sie stärken sich ausgiebig, dann vereinigen sie ihre Antennen, um die Lage zu besprechen. Diese Angelegenheit wird immer rätselhafter. Die geheime Waffe, mit der die Expedition Nr. 1 vernichtet wurde, die Kriegerinnen mit dem eigenartigen Duft, die sie überall attackieren, die Lomechuse, ein Nahrungsmittellager unter dem Boden der Stadt ... Dahinter steckt mehr als eine Gruppe von Spionen im Dienst der Zwerginnen. Oder sie sind verdammt gut organisiert!
Nr. 327 und seine Partnerinnen kommen nicht mehr dazu, ihre Gedanken zu vertiefen. Ein dumpfes Pochen hallt bis zu ihnen herunter. Pongpongpongpong, pongpongpongpong! Oben trommeln die Arbeiterinnen mit dem Ende ihres Hinterleibs auf den Boden. Das ist ernst. Man ist schon bei Alarmstufe zwei. Sie dürfen diesen Appell nicht ignorieren. Ihre Beine machen automatisch kehrt. Ihre Körper, getrieben von einer unwiderstehlichen Kraft, sind bereits unterwegs, um sich dem Rest des Volkes anzuschließen.
Die Hinkende, die ihnen in einiger Entfernung gefolgt ist, ist erleichtert. Uff! Sie haben nichts entdeckt ...
Da weder sein Vater noch seine Mutter aus dem Keller zurückkamen, entschloß sich Nicolas zu guter Letzt, die Polizei zu verständigen. Und so tauchte ein ausgehungertes Kind mit geröteten Augen im Kommissariat auf, um zu erklären, daß seine Eltern »im Keller verschwunden« seien. Wahrscheinlich seien sie von Ratten oder Ameisen gefressen worden. Zwei verdutzte Polizisten folgen ihm in die Souterrainwohnung in der Rue des Sybarites.
Intelligenz (Fortsetzung): Das Experiment wird wiederholt, diesmal mit einer Videokamera.
Versuchsperson: Eine andere Ameise der gleichen Art und aus dem gleichen Nest.
- Erster Tag: Sie zieht, drückt und beißt den Halm ohne irgendeinen Erfolg.
- Zweiter Tag: Idem.
- Dritter Tag: Geschafft! Sie hat etwas gefunden, sie zieht ein wenig, klemmt den Zweig fest, indem sie ihren Hinterleib in das Loch steckt und ihn anschwellen läßt, dann zieht sie ihre »Beute« heraus und beginnt von vorn. Und so entfernt sie Stück für Stück den Halm.
So ging das also ...
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Der Alarm wurde von einem außergewöhnlichen Ereignis ausgelöst. La-chola-kan, die westlichste der Tochterstädte, ist von Einheiten der Zwergameisen angegriffen worden.
Sie haben also wieder angefangen ...
Jetzt ist der Krieg unvermeidlich.
Die Überlebenden, denen es gelungen ist, die Blockade der Shigaepuanerinnen zu durchbrechen, erzählen unglaubliche Dinge. Folgendes habe sich abgespielt:
Um 17°-Zeit habe sich ein langer Akazienzweig dem Haupteingang von La-chola-kan genähert. Ein ungewöhnlicher mobiler Zweig. Er sei ruckartig eingedrungen und habe die Öffnung zerstört, indem er sich in einem fort drehte!
Die Schildwachen seien nach draußen gestürmt, um dieses unbekannte grabende Objekt anzugreifen, seien jedoch allesamt vernichtet worden. Daraufhin habe sich alle Welt verbarrikadiert und darauf gewartet, daß der Zweig aufhört zu wüten. Aber das habe kein Ende genommen.
Der Zweig habe in den Gängen gewühlt und die ganze Kuppel gesprengt, als wäre sie eine Rosenknospe. Die Soldatinnen hätten auf Teufel komm raus geschossen, aber die Säure habe nichts gegen diesen pflanzlichen Zerstörer vermocht.
Die Lacholakanerinnen hätten es vor Entsetzen kaum noch ausgehalten. Irgendwann habe das dann doch aufgehört. Dafür seien nach einer kurzen Pause die Einheiten der Zwerginnen im Sturmschritt angekommen.
Die aufgeschlitzte Tochterstadt habe Mühe gehabt, ihrer Attacke zu widerstehen. Es habe Zigtausende von Opfern gegeben. Die Überlebenden hätten sich schließlich in ihren Kiefernstumpf zurückgezogen, und bislang sei es ihnen gelungen, der Belagerung standzuhalten. Sie könnten jedoch nicht mehr lange durchhalten, sie hätten keinerlei Vorräte, und der Kampf tobe bereits in den hölzernen Adern der Verbotenen Stadt.
Da La-chola-kan zur Föderation gehört, müssen Bel-o-kan und alle Töchterstädte zu Hilfe eilen. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, noch bevor die Antennen das Ende der ersten Berichte empfangen haben. Wer redet noch von Erholung und Wiederaufbau? Der erste Krieg des Frühjahrs hat begonnen.
Das 327. Männchen, das 56. Weibchen und die 103 683. Soldatin hasten die Stockwerke hinauf. Überall wimmelt es von Ameisen.
Die Ammen tragen die Eier, die Larven und die Puppen in das 43. UG. Die Blattlausmelkerinnen verstecken ihr grünes Vieh tief unten in der Stadt. Die Bäuerinnen bereiten feingehackte Nahrungsvorräte zu, die als Kampfration dienen können. In den Sälen der militärischen Kasten füllen die Artilleristinnen ihre Hinterleiber randvoll mit Ameisensäure. Die Fechterinnen schärfen ihre Mandibeln. Die Söldnerinnen schließen sich zu kompakten Einheiten zusammen. Die Fortpflanzungsfähigen verkriechen sich in ihren Vierteln.
Sie können nicht sofort angreifen, es ist noch zu kalt. Aber morgen mit dem ersten Sonnenstrahl wird der Krieg wüten.
Oben auf der Kuppel werden die Öffnungen zur Wärmeregulierung verstopft. Die Stadt Bel-o-kan schließt ihre Poren, zieht die Krallen ein und knirscht mit den Zähnen. Sie ist bereit zuzubeißen.