»Und dann hatte er noch eine andere Marotte: Höhlen. Das ganze Haus hat er auf den Kopf gestellt, um sich seine Schlupfwinkel zu bauen. Eine hat er sich mit Decken und Schirmen auf dem Speicher gebaut, eine andere mit Stühlen und Pelzmänteln in seinem Zimmer. Darin hauste er dann den ganzen Tag, einfach so, inmitten der Schätze, die er dort hortete. Einmal hab ich nachgeschaut, beide waren voll von Kissen und dem ganzen Zeug, das er aus den Geräten geklaubt hatte. Das sah gar nicht so ungemütlich aus.«
»Das machen doch alle Kinder ...«
»Vielleicht, aber bei ihm nahm das wundersame Ausmaße an. Er weigerte sich, ins Bett zu gehen, er schlief nur noch in einer seiner Höhlen. Manchmal blieb er tagelang darin. Als wollte er überwintern. Deine Mutter hat mal behauptet, in einem früheren Leben müsse er ein Eichhörnchen gewesen sein.«
Jonathan lächelte ihr aufmunternd zu.
»Eines Tages wollte er seine Bude unter dem Wohnzimmertisch bauen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Dein Großvater, eigentlich ein friedlicher Mensch, hat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat ihm den Hintern versohlt, seine Höhlen zerstört und ihn gezwungen, im Bett zu schlafen.«
Sie seufzte.
»Von diesem Tag an hat er sich uns völlig entzogen. Als hätte jemand die Nabelschnur durchtrennt. Wir gehörten nicht mehr zu seiner Welt. Aber ich glaube, diese Prüfung war nötig, er mußte begreifen, daß sich die Welt nicht ewig seinen Launen beugt. Später, als er größer wurde, hat das Probleme gegeben. Er ertrug die Schule nicht mehr. >Wie alle Kinder<, wirst du wieder sagen. Aber bei ihm ging das darüber hinaus. Kennst du viele Kinder, die sich mit ihrem Gürtel in der Toilette aufhängen, weil sie von ihrem Lehrer einen Rüffel bekommen haben? Er, er hat sich mit sieben Jahren aufgehängt. Der Hausmeister hat ihn runtergeholt.«
»Vielleicht war er zu sensibel .«
»Zu sensibel? Von wegen! Ein Jahr später hat er versucht, einen seiner Lehrer mit einer Schere zu erstechen. Mitten ins Herz hat er gezielt. Zum Glück hat er nur sein Zigarettenetui erwischt.«
Sie blickte zur Decke. Erinnerungen rieselten ihr wie Schneeflocken kunterbunt in den Sinn.
»Danach hat sich das ein wenig gelegt, weil es einige Lehrer geschafft haben, seine Begeisterung zu wecken. Er hatte eine Eins in allen Fächern, die ihn interessierten, und eine Sechs in allen andern. Eins oder Sechs, sonst gab es nichts.«
»Mama hat gesagt, er sei ein Genie.«
»Deine Mutter schwärmte für ihn, weil er ihr erklärt hat, er versuche das »absolute Wissen« zu erlangen. Deine Mutter glaubte seit ihrem zehnten Lebensjahr an ein früheres Leben, und sie hat gedacht, er sei die Reinkarnation von Einstein oder Leonardo da Vinci.«
»Also nicht nur ein Eichhörnchen?«
»Warum nicht auch das. >Es braucht viele Leben, um eine Seele zu schaffen<, hat Buddha gesagt.«
»Hat er IQ-Tests gemacht?«
»Ja. Die waren ein totaler Reinfall. Dreiundzwanzig von hundertachtzig Punkten hat er erreicht, was leichten Schwachsinn bedeutet. Seine Lehrer haben gedacht, er sei verrückt und man müsse ihn in eine Anstalt stecken. Ich aber wußte, daß er nicht verrückt war. Er war nur »daneben«. Ich erinnere mich, daß er einmal, oh, da war er keine elf Jahre alt, mit mir gewettet hat, daß ich es nicht schaffen würde, vier gleichseitige Dreiecke mit nur sechs Streichhölzern zu bilden.
Das ist nicht einfach, hier, versucht doch mal ...«
Sie ging in die Küche, warf einen Blick auf ihren Teekessel und brachte sechs Streichhölzer mit. Jonathan zögerte einen Moment. Das schien machbar. Er ordnete die sechs Stäbchen auf unterschiedliche Weise an, aber nach einigen Minuten mußte er aufgeben.
»Wie ist denn die Lösung?«
Großmutter Augusta konzentrierte sich.
»Na ja, ich glaube, die hat er mir nie verraten. Das einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, was er mir als Hilfestellung gesagt hat: »Man muß anders denken; wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist, erreicht man nichts.« Stell dir vor, ein Balg von elf Jahren, der solche Sachen von sich gibt! Ah, ich glaube, da pfeift der Teekessel. Ich glaube, das Wasser kocht.«
Sie kehrte mit zwei Tassen zurück, die mit einer gelblichen, duftenden Flüssigkeit gefüllt waren.
»Weißt du, ich freue mich, daß du dich so für deinen Onkel interessierst. Heutzutage sterben die Leute, und man vergißt sogar, daß sie auf der Welt waren.«
Jonathan ließ die Streichhölzer fallen und trank vorsichtig einige Schlucke Kräutertee.
»Und wie ging es dann weiter?«
»Ich weiß es nicht. Kaum hatte er sein Studium an der Naturwissenschaftlichen Fakultät aufgenommen, haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich habe nur andeutungsweise von deiner Mutter erfahren, daß er mit Bravour habilitiert und anschließend für eine Nahrungsmittelgesellschaft gearbeitet hat, die er dann verließ, um nach Afrika zu gehen, und daß er wieder zurückgekehrt ist, um sich in der Rue des Sybarites niederzulassen. Danach hat bis zu seinem Tod niemand mehr etwas von ihm gehört.«
»Woran ist er gestorben?«
»Ja, weißt du das denn nicht? Eine unglaubliche Geschichte. Sie stand in sämtlichen Zeitungen. Stell dir vor, er ist von Wespen getötet worden.«
»Von Wespen? Wie das?«
»Er ist allein durch den Wald spaziert. Er muß aus Unachtsamkeit ein Nest umgestoßen haben. Sie sind allesamt über ihn hergefallen. >Ich habe noch nie so viele Stiche an einem einzigen Menschen gesehen<, hat der Gerichtsmediziner gesagt. Er ist mit 0,3 Gramm Gift pro Liter Blut gestorben. Absoluter Rekord.«
»Gibt es ein Grab?«
»Nein. Er hat darum gebeten, unter einer Kiefer im Wald beerdigt zu werden.«
»Hast du ein Foto von ihm?«
»Da, schau mal, an der Wand, über der Kommode. Rechts: Suzy, deine Mutter (hast du schon mal ein Bild von ihr gesehen, als sie noch so jung war?). Und links: Edmond.«
Er hatte eine kahle Stirn, einen spitzen Schnurrbart, Ohren ohne Ohrläppchen wie Kafka, die bis über die Augenbrauenhöhe reichten. Er lächelte spöttisch. Ein wahres Teufelchen.
Suzy neben ihm sah in ihrem weißen Kleid wunderschön aus. Sie hatte einige Jahre zuvor geheiratet, aber stets darauf bestanden, ihren Familiennamen Wells beizubehalten. Als wollte sie nicht, daß ihr Gefährte die Spur seines Namens auf ihren Sprößlingen hinterließ.
Jonathan trat näher und erkannte, daß Edmond zwei ausgestreckte Finger über den Kopf seiner Schwester hielt.
»Er war ein richtiger Schelm, oder?«
Augusta gab keine Antwort. Trauer hatte ihren Blick verschleiert, als sie das strahlende Gesicht ihrer Tochter gesehen hatte. Suzy war vor sechs Jahren gestorben. Ein Fünfzehntonner, gesteuert von einem betrunkenen Fahrer, hatte ihren Wagen in eine Schlucht gestoßen. Der Todeskampf hatte zwei Tage gedauert. Sie hatte nach Edmond verlangt, aber Edmond war nicht gekommen. Wieder einmal war er woanders gewesen .
»Kennst du noch mehr Leute, die mir von Edmond erzählen könnten?«
»Hmm ... Da war ein Jugendfreund, den hat er öfters gesehen. Sie waren sogar zusammen an der Universität. Jason Bragel. Seine Nummer müßte ich noch haben.«
Augusta sah rasch in ihrem Computer nach, dann gab sie Jonathan die Adresse. Sie schaute ihren Enkel liebevoll an. Er war der letzte Überlebende der Familie Wells. Ein braver Junge.
»Komm, trink deinen Tee aus, sonst wird er kalt. Ich hab auch noch Sandplätzchen, wenn du willst. Ich backe sie selbst, mit Wachteleiern.«
»Nein, danke, aber ich muß wieder los. Besuch uns doch mal in unserer neuen Wohnung, wir sind fertig mit dem Umzug.«
»Gerne. Warte, geh nicht ohne den Brief.«
Sie durchsuchte fieberhaft den großen Wandschrank, die eisernen Schubladen, schließlich fand sie einen weißen Umschlag, auf dem in eilig dahingeschriebenen Buchstaben stand: »Jonathan Wells.« Die Klappe des Umschlags war mit mehreren Klebestreifen verstärkt, um zu verhindern, daß er von selbst aufging. Jonathan riß ihn vorsichtig auf. Ein zerknittertes Blatt, wie aus einem Schulheft, fiel heraus. Nur ein einziger Satz war darauf notiert: