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Nr. 56 ist noch unversehrt. Sie hüpft von Zweig zu Zweig und achtet darauf, daß sie nicht fällt und ihre zarten Flügel beschädigt.

Eine Schwester, die an ihrer Seite wandelt, wünscht einen Antennenkontakt. Sie fragt sich, wer diese berühmten Männchen sind. So etwas wie Drohnen oder Fliegen?

Nr. 56 gibt keine Antwort. Sie denkt an Nr. 327, an das Rätsel der »Geheimwaffe«. Es ist alles vorbei. Keine Arbeitszelle mehr. Jedenfalls nicht für die beiden. Die ganze Sache ist künftig Nr. 103 683 überlassen.

Sie erinnert sich wehmütig der Ereignisse.

Das flüchtige Männchen, das in ihrer Kammer aufkreuzt ... Ohne »Paß!«

Ihre erste absolute Kommunikation!

Ihre Begegnung mit Nr. 103 683.

Die Killerinnen mit dem Felsenduft.

Ihr Abstieg in die Niederungen der Stadt.

Das Versteck mit den Kadavern derjenigen, die ihre »Legion« hätten werden können.

Die Lomechuse.

Der Geheimgang in dem Granitfelsen ...

Sie schwelgt in ihren Erinnerungen und fühlt sich privilegiert. Keine ihrer Schwestern hat solche Abenteuer erlebt, noch bevor sie die Stadt verlassen hat.

Die Killerinnen mit dem Felsenduft ... Die Lomechuse ... Der Geheimgang in dem Granitfelsen ...

Mit Verrücktheit ist das nicht zu erklären, handelt es sich doch um zu viele Individuen. Söldnerinnen, die für die Termiten spionieren? Nein, das haut nicht hin, ganz und gar nicht, dann wären es nicht so viele, wären sie nicht so gut organisiert.

Ohnehin bleibt ein Punkt, der zu nichts paßt: Wozu dienen diese Nahrungsvorräte unter dem Boden der Stadt? Um die Spioninnen zu ernähren? Nein, da ist genug, um Millionen von Personen zu mästen ... Und Millionen sind sie nun doch nicht.

Und diese erstaunliche Lomechuse. Das ist ein Tier, das an der Oberfläche lebt. Es ist unmöglich, daß sie aus eigener Kraft in das 50. UG gelangt ist. Man hat sie also dorthin transportiert. Aber sobald man sich diesem Insekt nähert, wird man von seinem Duft gefangen. Dazu gehört schon eine ziemlich starke Gruppe, dieses Ungeheuer in weiche Blätter zu hüllen und heimlich nach unten zu schaffen.

Je mehr sie darüber nachdenkt, um so klarer wird ihr, daß das beträchtliche Mittel voraussetzt. Und in der Tat, wenn man den Dingen ins Gesicht sieht, läuft alles so ab, als habe ein Teil des Volkes ein Geheimnis, das zäh gegen die eigenen Schwestern verteidigt wird.

Unbekannte Kontakte bohren sich in ihren Kopf. Sie bleibt stehen. Ihre Artgenossen glauben, ihr schwänden vor Aufregung ob des Hochzeitsflugs die Kräfte. Das passiert zuweilen, die Weibchen sind so sensibel. Sie führt ihre Antennen vor ihren Mund. Sie geht rasch noch einmal durch: die Expedition Nr. 1 vernichtet, die Geheimwaffe, die dreißig Legionärinnen getötet, die Lomechuse, der Geheimgang in dem Granitfelsen, die Nahrungsreserven ...

Das ist es, große Güte, sie hat es verstanden! Sie stürmt gegen den Strom ihrer Schwestern los. Wenn es bloß nicht zu spät ist!

ERZIEHUNG: Die Erziehung der Ameisen vollzieht sich in folgenden Etappen:

-    Vom ersten bis zum zehnten Tag kümmern sich die meisten der Jungen um die eierlegende Königin. Sie pflegen sie, belecken sie, streicheln sie. Dafür salbt jene sie mit ihrem nahrhaften und desinfizierenden Speichel.

-    Vom elften bis zum zwanzigsten Tag haben die Arbeiterinnen das

Recht, die Kokons zu pflegen.

-    Vom einundzwanzigsten bis zum dreißigsten Tag beaufsichtigen und ernähren sie die jungen Larven.

-    Vom einunddreißigsten bis zum vierzigsten Tag gehen sie häuslichen Pflichten und der Abfallbeseitigung nach, wobei sie auch die Königin und die Nymphen weiter pflegen.

-    Der vierzigste Tag ist ein wichtiges Datum. Sie gelten nun als erfahren genug und erhalten das Recht, die Stadt zu verlassen.

-    Vom einundvierzigsten bis zum fünfzigsten Tag arbeiten sie als Wächterinnen oder Blattlausmelkerinnen.

-    Vom einundfünfzigsten bis zum letzten Tag ihres Lebens können sie zu der für eine Stadtameise interessantesten Beschäftigung vordringen: der Jagd und der Erkundung unbekannter Zentren.

Anmerkung: Vom elften Tag an sind die fortpflanzungsfähigen Ameisen von der Arbeit befreit. Sie sind die meiste Zeit über untätig und stehen bis zum Tag des Hochzeitsflugs in ihren Vierteln unter »Arrest«.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Nr. 327 bereitet sich ebenfalls vor. In dem gesamten Feld seiner Antennen reden die Männchen von nichts anderem als von Weibchen. Sehr wenige nur haben eines gesehen. Und wenn, war das nur ein flüchtiger Blick in den Gängen der Verbotenen Stadt. Viele geraten ins Phantasieren. Sie stellen sie sich mit berauschenden Düften vor, glauben, sie seien von umwerfender Erotik.

Einer der Prinzen behauptet, er habe von einem Weibchen eine Trophallaxie erhalten. Ihr Honigtau habe geschmeckt wie Birkensaft, und ihre Sexualhormone verströmten einen Duft wie abgeschnittene Osterglocken.

Die anderen beneiden ihn schweigend.

Nr. 327, der wirklich den Honigtau eines Weibchens gekostet hat (und was für eines Weibchens), weiß, daß sich jener in nichts von dem Honigtau der Arbeiterinnen oder Kürbisse unterscheidet. Gleichwohl mischt er sich nicht in die Unterhaltung ein.

Dafür geht ihm eine schelmische Idee durch den Sinn. Er würde gern das 56. Weibchen mit den für die Errichtung ihrer zukünftigen Stadt erforderlichen Spermien versorgen. Wenn er sie findet ... Schade, daß sie nicht daran gedacht, ein Erkennungspheromon auszumachen, um sich in der Menge treffen zu können.

Als Nr. 56 in den Saal der Männchen eindringt, herrscht allgemeine Verwunderung. Hierherzukommen ist gegen alle Regeln des Volkes. Männchen und Weibchen dürfen sich beim Hochzeitsflug zum erstenmal sehen. Man ist doch hier nicht bei den Zwerginnen. Man paart sich doch nicht in den Gängen.

Die Prinzen, die so sehr wissen wollten, wie solch ein Weibchen ist, erstarren. Sie senden alle zugleich feindselige Düfte aus, die ihr bedeuten sollen, daß sie nicht in diesem Raum bleiben darf.

Sie läßt sich jedoch nicht davon abhalten, sich mitten in diesen Tumult der Vorbereitungen zu zwängen. Sie stößt alle Welt um, stößt verzweifelt ihre Pheromone in die Runde.

327! 327! Wo bist du, 327?

Die Prinzen haben keine Hemmungen, ihr zu sagen, daß man sich so seinen Begatter nicht aussucht! Sie muß sich gedulden, auf den Zufall vertrauen. Ein bißchen Anstand ...

Schließlich findet Nr. 56 ihren Begleiter. Er ist tot. Sein Kopf wurde mit einem Mandibelbiß abgetrennt.

TOTALITARISMUS: Die Menschen interessieren sich für die Ameisen, weil sie glauben, daß es jenen geglückt ist, ein funktionierendes totalitäres System zu schaffen. Es trifft auch zu, daß man von außen den Eindruck hat, jeder arbeite in einem Ameisenhaufen, jeder gehorche, jeder sei bereit, sich zu opfern, alle seien gleich. Und da einstweilen die totalitären Systeme der Menschen samt und sonders gescheitert sind ...

Also glaubt man das soziale Insekt kopieren zu müssen (war nicht auch die Biene das Attribut Napoleons?). Die Pheromone, die den Ameisenhaufen als globale Informationen durchfluten, entsprechen dem weltweiten Fernsehen von heute. Der Mensch glaubt, daß er eines Tages zu einer vollkommenen Menschheit gelangt, wenn er allen anbietet, was er für das Beste erachtet.