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Das ist nicht der Sinn der Dinge.

Die Natur, ob es Herrn Darwin gefällt oder nicht, entwickelt sich nicht auf die Vorherrschaft der Besten hin (nach welchen Kriterien auch?).

Die Natur schöpft ihre Kraft aus der Verschiedenheit. Sie braucht Gute, Böse, Verrückte, Verzweifelte, Sportliche, Bettlägerige, Bucklige, Hasenfüße, Lustige, Traurige, Intelligente, Schwachsinnige, Egoisten. Freigebige, Kleine, Große. Schwarze, Gelbe, Rote, Weiße ... Es bedarf dazu sämtlicher Religionen, sämtlicher Philosophien, aller Formen von Fanatismus, aller Formen von Weisheit ... Die einzige Gefahr besteht darin, daß eine dieser Arten von einer anderen eliminiert wird.

Man hat gesehen, daß die von den Menschen künstlich angelegten Maisfelder, die sich aus Zwillingen der besten Kolben zusammensetzten (der Mais, der am wenigsten Wasser braucht; der, der am besten dem Frost widersteht; der, der die schönsten Körner hervorbringt), allesamt bei der geringsten Krankheit plötzlich eingingen. Wohingegen die Felder mit wildem Mais, die sich aus mehreren Stämmen zusammensetzten, die alle ihre Besonderheit, ihre Schwächen, ihre Anomalien hatten, stets eine Parade gegen irgendwelche Epidemien fanden.

Die Natur haßt die Gleichförmigkeit, sie liebt die Verschiedenheit. Vielleicht liegt darin ihr Genie.

Edmond Wells

Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens

Sie hastet mit kurzen, mühsamen Schritten in die Kuppel zurück. In einem Gang in der Nähe des Frauengemachs erkennt sie mit ihren Infrarot-Ozellen zwei Gestalten. Die Mörderinnen mit dem Felsenduft! Die Dicke und die kleine Hinkende!

Sie kommen auf sie zu. Nr. 56 läßt ihre Flügel surren und springt der Hinkenden an den Hals. Sie haben sie jedoch schnell überwältigt. Anstatt sie aber umzubringen, zwingen sie ihr einen Antennenkontakt auf.

Nr. 56 ist wütend. Sie fragt, weshalb sie das 327. Männchen getötet haben, wo es doch bei dem Flug ohnehin gestorben wäre. Warum haben sie es ermordet?!

Die beiden Killerinnen reden ihr gut zu. Gewisse Dinge können ihnen zufolge nicht warten. Ganz gleich, was es kostet. Es gibt Aufgaben, die verpönt sind. Taten, die schlecht beurteilt werden, aber dennoch ausgeführt werden müssen, damit das Volk normal weiterlebt. Man darf nicht so naiv sein ... Die Einheit von Bel-o-kan, die ist einiges wert. Und wenn’s nötig ist, muß man halt was tun!

Ja, sind sie denn keine Spioninnen?

Nein, sie sind keine Spioninnen. Sie behaupten sogar ., die maßgebenden Wächterinnen der Sicherheit und des Wohls des Volkes zu sein.

Die Prinzessin stößt wutentbrannte Pheromone aus. Als ob Nr. 327 eine Gefahr für die Sicherheit des Volkes gewesen sei! Doch, antworten die beiden Killerinnen. Eines Tages wird sie es verstehen, im Moment ist sie noch zu jung ...

Verstehen? Was wird sie verstehen? Daß es Mörderinnen im Herzen der Stadt gibt, die obendrein behaupten, zu deren Wohl zu handeln, wenn sie Männchen umbringen, die Dinge gesehen haben, »die entscheidend sind für das Überleben des Volks«?

Die Hinkende bequemt sich zu einer Erklärung. Aus ihrer Rede geht hervor, die Kriegerinnen mit dem Felsenduft seien »Antistreß-Soldatinnen«. Es gebe einen guten Streß, der dazu führt, daß das Volk Fortschritte macht und kämpft. Aber es gebe auch einen schlechten Streß, der dazu führt, daß sich das Volk selbst zerstört ...

Nicht alle Informationen seien sinnvoll. Einige würden »metaphysische« Ängste erzeugen, für die es noch keine Lösung gibt. Also würde sich das Volk beunruhigen, aber es sei gehemmt, unfähig zu reagieren ...

Das sei ganz schlecht für alle. Das Volk beginne Toxine zu produzieren, die es vergiften. Das »langfristige« Überleben des Volkes sei wichtiger als die »kurzfristige« Kenntnis der Wirklichkeit. Wenn ein Auge etwas sieht, von dem das Hirn weiß, daß es dem Rest des Organismus gefährlich ist, sei es besser, wenn das dieses Auge ausreißt ...

Die Dicke stimmt ein, um die Rede der Hinkenden mit kunstvollen Worten zusammenzufassen:

Das Auge haben wir ausgerissen, Den nervlichen Stimulus haben wir zerschnitten. Die Angst haben wir beendet.

Die Antennen lassen nicht locker, verdeutlichen, daß alle Organismen mit dieser Art Sicherung ausgestattet seien. Jene, die dergleichen nicht haben, stürben vor Angst oder brächten sich um, um sich nicht der beängstigenden Wirklichkeit stellen zu müssen.

Nr. 56 ist ziemlich überrascht, aber sie läßt sich nicht aus der Fassung bringen. Ein feines Pheromon, wahrhaftig! Wenn sie das Vorhandensein der Geheimwaffe verheimlichen wollen, ist es ohnehin zu spät. Alle Welt weiß, daß La-chola-kan das erste Opfer war, auch wenn das Rätsel in technologischer Hinsicht weiterhin ungelöst ist ...

Die beiden Soldatinnen bleiben gelassen, lockern ihren Griff jedoch nicht. La-chola-kan, das hat doch jeder schon vergessen, der Sieg hat die Neugier abflauen lassen. Im übrigen reicht es, in den Gängen zu schnüffeln, es gibt nicht den geringsten Geruch von Toxinen. Das ganze Volk ist unbesorgt bei diesem Fest der Wiedergeburt.

Was wollen sie dann von ihr? Warum klemmen sie ihren Kopf so ein?

Während der Hetzjagd durch die unteren Stockwerke hat die Hinkende eine dritte Ameise geortet. Eine Soldatin. Wie lautet ihre Identifikationsnummer?

Deshalb haben sie sie also nicht sofort getötet! Statt einer Antwort stößt das Weibchen die Spitzen seiner Antennen tief in die Augen der Dicken. Daß diese von Geburt an blind ist, bedeutet nicht, daß sie nicht große Schmerzen hat. Die Hinkende lockert verblüfft ihren Griff.

Nr. 56 läuft los, fliegt, um schneller voranzukommen. Ihre Flügel wirbeln eine Staubwolke auf, die ihre Verfolgerinnen verwirrt. Schnell, sie muß die Kuppel erreichen.

Sie ist haarscharf dem Tod entgangen. Jetzt wird für sie ein anderes Leben beginnen.

Auszug aus der Petitionsrede gegen die Spielzeugameisenhaufen, gehalten von Edmond Wells vor der Untersuchungskommission der Nationalversammlung:

»Gestern habe ich in den Läden dieses neue Spielzeug gesehen, das die Kinder zu Weihnachten geschenkt bekommen. Es handelt sich um durchsichtige, mit Erde gefüllte Plastikschachteln, in denen sich sechshundert Ameisen, darunter garantiert eine fruchtbare Königin, befinden.

Man sieht sie arbeiten, wühlen, laufen.

Für ein Kind ist das faszinierend. Das ist, als schenke man ihm eine Stadt. Nur daß die Einwohner winzig klein sind. Gleichsam Hunderte von kleinen, beweglichen und autonomen Puppen.

Ich muß gestehen, ich besitze selbst ähnliche Ameisenhaufen. Weil ich sie im Rahmen meiner Arbeit als Biologe schlicht und einfach studieren muß. Ich habe sie in Aquarien untergebracht, deren Wände ich mit luftdurchlässigem Karton ausgefüllt habe.

Und doch, jedesmal wenn ich vor einem meiner Ameisenhaufen stehe, habe ich ein seltsames Gefühl. Als wäre ich allmächtig in ihrer Welt. Als wäre ich ihr Gott.

Wenn mir danach ist, ihnen ihre Nahrung wegzunehmen, werden sie alle sterben; wenn mich die Lust anwandelt, Regen zu erzeugen, muß ich lediglich mit der Gießkanne den Inhalt eines Glases Wasser über ihre Stadt rieseln lassen; wenn ich beschließe, ihre Raumtemperatur zu erhöhen, brauche ich sie bloß auf den Radiator zu stellen; wenn ich eine entführen will, um sie unter dem Mikroskop zu betrachten, nehme ich einfach meine Pinzetten und fahre damit in das Aquarium; und wenn es mich überkäme, welche zu töten, stieße ich auf keinerlei Widerstand. Sie würden nicht einmal verstehen, was ihnen widerfahren ist.

Ich sage Ihnen, meine Herren, uns ist eine maßlose Macht über diese Geschöpfe gegeben. Einzig und allein, weil sie von kleinerer Gestalt sind.