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Aber ich mißbrauche diese Macht nicht. Aber ich stelle mir vor, ein Kind ... Auch ein Kind kann ihnen alles antun.

Manchmal kommt mir ein dummer Gedanke. Ich sehe ihre Städte aus Sand, und ich sage mir: Und wenn das unsere wären? Wenn wir ebenfalls in irgendeinem Aquarium gefangen wären und überwacht von einer anderen riesigen Art?

Wenn Adam und Eva zwei Versuchskaninchen waren, die in einer künstlichen Landschaft ausgesetzt wurden, um >zu sehen, was das gibt<?

Wenn die Vertreibung aus dem Paradies, von der die Bibel spricht, nur der Umzug in ein anderes Aquarium war?

Wenn die Sintflut letztlich nur ein Glas Wasser war, das von einem nachlässigen oder neugierigen Gott umgestoßen wurde?

Unmöglich, sagen Sie? Nun ja ... Der einzige Unterschied könnte sein, daß meine Ameisen von gläsernen Wänden umgeben sind, während wir durch eine physische Kraft gefangengehalten werden: die Gravitation!

Gleichwohl glückt es meinen Ameisen mitunter, den Karton zu zerschneiden, mehrere sind schon entkommen. Und uns gelingt es. Raketen abzuschießen, welche die Schwerkraft überwinden.

Kommen wir auf die Aquariumstädte zurück. Wie ich Ihnen vorhin sagte: Ich bin ein großmütiger, barmherziger und sogar ein wenig abergläubischer Gott. Also lasse ich meine Versuchstiere niemals leiden. Was ich nicht will, daß man mir tut, füg ich auch ihnen nicht zu.

Aber die zigtausend Ameisenhaufen, die Weihnachten verkauft werden, machen die Kinder ebenfalls zu kleinen Göttern. Werden sie genauso großmütig und barmherzig sein wie ich?

Sicher, die meisten werden begreifen, daß sie für eine Stadt verantwortlich sind und daß ihnen daraus nicht nur göttliche Rechte, sondern auch Pflichten erwachsen: die Pflicht, sie zu ernähren, sie in der richtigen Temperatur zu halten, sie nicht aus Spaß zu töten.

Kinder, und ich denke vor allem an die ganz kleinen, die noch nicht verantwortlich sind. Kinder haben allerlei Unannehmlichkeiten: schulische Mißerfolge, streitende Eltern. Keilereien mit Freunden. In einem Wutanfall können sie durchaus ihre Pflicht als >junger Gott< vergessen, und dann wage ich mir das Schicksal ihrer >Bürger< nicht auszumalen ...

Ich fordere Sie nicht etwa aus Mitleid für die Ameisen oder aufgrund ihrer Rechte als Tiere auf, für das Verbot der Spielzeugameisenhaufen zu stimmen. Tiere haben keine Rechte; sie werden in Batterien gezüchtet und für unseren Konsum geschlachtet. Ich fordere Sie auf, für dieses Gesetz zu stimmen, indem Sie sich vorstellen, daß wir selbst vielleicht Versuchskaninchen und Gefangene einer riesigen Struktur sind. Fänden Sie es wünschenswert, wenn eines Tages die Erde einem jungen, unverantwortlichen Gott als Spielzeug zu Weihnachten geschenkt würde?«

Die Sonne steht auf ihrem höchsten Punkt.

Die Spätankömmlinge. Männchen wie Weibchen, drängen sich durch die Adern, die zur Haut der Stadt führen. Arbeiterinnen schieben sie an, belecken sie, muntern sie auf.

Nr. 56 ist mittlerweile in dieser jubelnden Menge untergetaucht, in der sich sämtliche persönlichen Gerüche vermengen. Hier wird es niemandem gelingen, ihre Düfte zu identifizieren. Sie läßt sich von dem Strom ihrer Schwestern tragen und gelangt immer höher in bislang unbekannte Viertel.

Plötzlich, am Ende eines Gangs, erblickt sie etwas, was sie noch nie gesehen hat. Das Tageslicht. Das ist zunächst nur ein Lichtschein an den Wänden, doch schon bald verwandelt sich das in blendende Helligkeit. Endlich sieht sie diese mysteriöse Kraft, die ihr die Ammen geschildert haben. Das warme, sanfte, schöne Eicht. Die Verlockung einer neuen, märchenhaften Welt.

Sie fühlt sich regelrecht berauscht durch die Aufnahme all dieser rohen Photonen in ihren Augenhöhlen. Als hätte sie zuviel von dem vergorenen Honigtau in der 32. Etage zu sich genommen.

Die 56. Prinzessin geht weiter. Der Boden ist mit Flecken von einem grellen Weiß gesprenkelt. Sie watet durch die warmen Photonen. Für jemand, der seine Kindheit unter der Erde verbracht hat, ist der Unterschied gewaltig.

Eine weitere Biegung. Ein Bündel klaren Lichts schießt hinein, dehnt sich zu einem flimmernden Kreis, dann zu einem silbernen Schleier aus. Das Bombardement des Lichts läßt sie zurückprallen. Sie spürt die Funken, die in ihre Augen treten, ihre Sehnerven versengen, ihre drei Gehirne martern. Drei Gehirne ... Ein altes Erbe ihrer Vorfahren, der Würmer, die einen Nervenknoten pro Körperring hatten, ein Nervensystem für jeden Teil des Körpers.

Sie kämpft wieder gegen den Photonenwind an. In der Ferne erkennt sie die Gestalten ihrer Schwestern, die von dem Tagesgestirn erhascht werden. Sie sehen aus wie Phantome.

Sie geht weiter. Ihr Panzer wird lauwarm. Dieses Licht, das man ihr tausendmal zu schildern versucht hat, ist mit Worten nicht zu erfassen, man muß es erleben! Sie muß an die Arbeiterinnen aus der Unterkaste der »Pförtnerinnen« denken, die zeitlebens in der Stadt eingeschlossen bleiben und niemals erfahren, wie die Außenwelt und die Sonne sind.

Sie dringt in die Mauer aus Licht ein und gelangt auf die andere Seite außerhalb der Stadt. Ihre Facettenaugen passen sich nach und nach an, während sie das Stechen der wilden Luft wahrnimmt. Eine kalte Luft, beweglich und duftend, ganz anders als die gezähmte Atmosphäre der Welt, in der sie gelebt hat.

Ihre Antennen wirbeln umher. Sie hat Mühe, sie kontrolliert auszurichten. Ein noch schnellerer Windstoß preßt sie ihr vors Gesicht. Ihre Flügel knattern.

Oben auf der Spitze der Kuppel wird sie von Arbeiterinnen in Empfang genommen. Sie ergreifen sie an den Beinen, ziehen sie hoch, stoßen sie nach vorn in ein Gewühl von Männchen und Weibchen, die sich zu Hunderten auf einer schmalen Fläche drängen und stapeln. Die 56. Prinzessin erfaßt, daß sie auf der Startbahn des Hochzeitsflugs steht, daß sie jedoch noch warten müssen, bis das Wetter besser ist.

Während der Wind weiter seinen Schabernack treibt, hat ein Dutzend Spatzen die Männchen und Weibchen erblickt. Angelockt von diesem unverhofften Fressen flattern sie immer näher heran. Als sie zu nahe kommen, decken die kronenförmig um die Spitze plazierten Artilleristinnen sie mit ihren Säurestrahlen ein.

Jetzt gerade versucht einer dieser Vögel sein Glück, er stürzt auf die Menge hinab, pickt drei Weibchen und steigt wieder hoch! Bevor der dreiste Räuber genug Höhe gewonnen hat, wird er von den Artilleristinnen abgeschossen; er wälzt sich, den Schnabel noch voll, kläglich im Gras, um das Gift von seinen Flügeln zu wischen.

Das soll ihnen eine Lehre sein! Und in der Tat, die Spatzen haben sich ein wenig zurückgezogen ... Aber niemand läßt sich dadurch täuschen. Sie werden bald wiederkommen, die Luftabwehr einem erneuten Test unterziehen.

raubtiere: Was wäre unsere menschliche Zivilisation, wenn sie sich nicht der gefährlichsten Raubtiere entledigt hätte, der Wölfe, Löwen, Bären und Hyänen?

Sicher eine ängstliche, ständig in Frage gestellte Zivilisation.

Die Römer ließen, um sich inmitten ihrer Zechgelage Angst einzujagen, eine Leiche herbeischaffen. So wurden alle daran erinnert, daß nichts gewonnen ist und daß der Tod jeden Augenblick eintreten kann.

Heute jedoch hat der Mensch sämtliche Arten, die fähig sind, ihn zu fressen, umgebracht, ausgerottet, ins Museum gesteckt. So daß die Mikroben und vielleicht die Ameisen die einzigen sind, die ihn noch schrecken können.

Die Zivilisation der Ameisen hingegen hat sich entwickelt, ohne daß es ihr gelungen ist, die hauptsächlichen Räuber auszuschalten. Resultat: Dieses Insekt lebt in ständiger Gefahr. Es weiß, daß es erst die Hälfte des Wegs zurückgelegt hat, wenn selbst das dümmste Tier mit einem Tatzenhieb die Frucht tausendjährigen, wohldurchdachten Experimentierens zunichte machen kann.