Niemals den Keller betreten!
Die Ameise zittert mit den Antennen. Sie ist wie ein Wagen, der lange im Schnee gestanden hat und nur mühsam wieder anspringt. Das Männchen versucht es mehrfach. Es reibt sie ein. Bestreicht sie mit warmem Speichel.
Leben. Da ist es, der Motor springt wieder an. Eine Jahreszeit ist vorüber. Alles beginnt von vorn, als hätten sie nie diesen »kleinen Tod« erfahren.
Es reibt sie weiter, um ihr Kalorien zu übertragen. Sie fühlt sich wohl jetzt. Während sich das Männchen weiter abmüht, richtet sie ihre Antennen in seine Richtung. Sie kitzelt es ganz sanft. Sie will wissen, wer es ist.
Sie berührt das von seinem Kopf aus gesehen erste Segment und liest sein Alter: hundertdreiundsiebzig Tage. Auf dem zweiten erkennt die blinde Arbeiterin seine Kaste: zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Auf dem dritten seine Rasse und seine Herkunft: rote Waldameise aus der Hauptstadt Bel-o-kan. Auf dem vierten entdeckt sie die Legenummer, die ihm als Benennung dient: es ist das 327. Männchen, das seit Herbstanfang geboren wurde.
Dort bricht ihre olfaktorische Identifizierung ab. Die restlichen Segmente sind nicht fürs »Senden« bestimmt. Das fünfte dient dazu, die Pistenmoleküle aufzunehmen. Das sechste ist für einfache Dialoge bestimmt. Das siebte ermöglicht komplexere Dialoge geschlechtlicher Art. Das achte ist den Dialogen mit der Königin vorbehalten. Die drei letzten schließlich dienen als kleine Keulen.
So, sie ist sämtliche elf Segmente der zweiten Hälfte der Antenne durchgegangen. Aber sie hat ihm nichts zu sagen. Also rückt sie von ihm ab und macht sich auf den Weg, um sich ihrerseits auf dem Dach der Stadt zu wärmen.
Das Männchen tut es ihr nach. Schluß mit der Arbeit als Wärmebotschafter, jetzt beginnen die Instandsetzungsarbeiten!
Oben angekommen, konstatiert das Männchen Nr. 327 die Schäden. Die Stadt ist kegelförmig gebaut, um den Unbilden der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dennoch war der Winter verheerend. Wind, Schnee und Hagel haben die oberste Schicht der Zweige weggefegt. Vogelmist verstopft die Ausgänge. Sie müssen sich schnell ans Werk machen. Nr. 327 huscht auf einen großen gelben Fleck zu und fällt mit seinen Mandibeln über die harten, übelriechenden Fäkalien her. Auf der anderen Seite erscheinen bereits die Umrisse eines Insekts, das von innen her gräbt.
Der Spion hatte sich verdunkelt. Jemand betrachtete ihn durch die Tür.
»Wer ist da?«
»Mein Name ist Gougne ... Ich komme wegen des Einbands.«
Die Tür öffnete sich halb. Gougnes Blick fiel auf einen blonden Jungen von ungefähr zehn Jahren, dann, tiefer noch, auf einen winzigen Hund, der seine Nase durch die Beine des Kindes schob und anfing zu knurren.
»Papa ist nicht da!«
»Sind Sie sicher? Professor Wells wollte bei mir vorbeikommen, und .«
»Professor Wells ist mein Großonkel. Er ist aber tot.«
Nicolas wollte die Tür wieder schließen, doch Gougne trat hartnäckig näher.
»Aufrichtiges Beileid. Aber sind Sie sicher, daß er nicht einen dicken Aktendeckel voller Blätter hinterlassen hat? Ich bin der Buchbinder. Er hat mich im voraus dafür bezahlt, daß ich seine Aufzeichnungen in Leder binde. Ich glaube, er hatte vor, eine Enzyklopädie anzulegen. Er wollte bei mir vorbeikommen, aber jetzt habe ich lange nichts mehr von ihm gehört .«
»Ich hab doch gesagt, er ist tot.«
Der Mann schob seinen Fuß weiter vor und drückte mit dem Knie gegen die Tür, als wollte er den Jungen umstoßen und eintreten. Der Miniaturhund begann wütend zu kläffen. Der Mann blieb stehen.
»Verstehen Sie, es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn ich meinen Verpflichtungen nicht nachkäme, und sei es posthum.
Schauen Sie doch bitte nach. Irgendwo muß hier ein großer roter Ordner sein.«
»Eine Enzyklopädie, sagten Sie?«
»Ja, er hat dem Ganzen sogar einen Namen gegeben: >Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissensc, aber es sollte mich wundern, wenn das auf dem Deckel stünde ...«
»Wir hätten sie sicher gefunden, wenn sie hier wäre.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich nicht lockerlasse, aber ...«
Der Zwergpudel begann wieder zu zetern. Der Mann wich einen kleinen Schritt zurück, was dem Jungen reichte, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Mittlerweile ist die ganze Stadt aufgewacht. Die Gänge sind voller Wärmeboten, die sich beeilen, die Bevölkerung zu wecken. An einigen Kreuzungen liegen jedoch noch reglose Städterinnen. Die Boten können sie noch so schütteln, ihnen Schläge versetzen, sie rühren sich nicht.
Sie werden sich nie mehr rühren. Sie sind tot. Der Winterschlaf ist ihnen zum Verhängnis geworden. Man kann nicht gefahrlos drei Monate mit einem praktisch nicht vorhandenen Herzschlag leben. Sie haben nicht gelitten. Sie sind im Schlaf verschieden, während eines plötzlichen Windstoßes, der die Stadt eingehüllt hat. Ihre Körper werden abtransportiert und auf die Deponie geworfen. Auf diese Weise schafft die Stadt jeden Morgen ihre toten Zellen mit dem anderen Abfall weg.
Kaum hat die Insektenstadt ihre Adern von allem Unrat gereinigt, beginnt ein buntes Treiben. Überall krabbeln Beine. Kiefer wühlen. Antennen zucken vor Informationen. Alles ist wieder wie zuvor. Wie vor dem einschläfernden Winter.
Das Männchen Nr. 327 transportiert gerade einen Zweig, der bestimmt sechzigmal soviel wiegt wie es selbst, als sich eine Kriegerin von über fünfhundert Tagen nähert. Sie klopft ihm mit ihren keulenartigen Segmenten auf den Schädel, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es hebt den Kopf. Sie drückt ihre Antennen der Länge nach gegen seine.
Sie will, daß es die Instandsetzungsarbeiten aufgibt, um mit einer Gruppe von Ameisen ... auf eine Jagdexpedition zu gehen.
Er berührt ihren Mund und ihre Augen.
Was für eine Jagdexpedition?
Sie läßt ihn an einem ziemlich trockenen Fleischstückchen riechen, das in einer Falte eines Gelenks ihres Thorax verborgen war.
Das hat man anscheinend kurz vor Winteranfang im Westen gefunden, und zwar in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne.
Das Männchen probiert. Käfer, kein Zweifel. Blattkäfer, genauer gesagt. Komisch. Normalerweise müßten die Käfer noch im Winterschlaf sein. Wie jeder weiß, wachen die roten Ameisen bei 12° Außentemperatur, die Termiten bei 13°, die Fliegen bei 14° und die Käfer bei 15° auf.
Die alte Kriegerin läßt sich von diesem Argument nicht aus der Fassung bringen. Sie erklärt ihm, daß dieses Fleischstückchen aus einer ungewöhnlichen Gegend stammt, die von einer unterirdischen Quelle künstlich erwärmt wird. Dort gibt es keinen Winter. Das ist ein Mikroklima, in dem sich eine spezielle Fauna und Flora entwickelt hat.
Außerdem hat die Stadt immer großen Hunger, wenn sie wach wird. Sie braucht dringend Proteine, um wieder in Gang zu kommen. Die Wärme allein reicht nicht.
Nr. 327 willigt ein.
Die Expedition besteht aus achtundzwanzig Ameisen aus der Kaste der Kriegerinnen. Die meisten sind geschlechtslose alte Damen, so auch die, die Nr. 327 zum Mitkommen bewegt hat. Das Männchen Nr. 327 ist das einzige Mitglied aus der Kaste der Fortpflanzungsfähigen. Es mustert seine Gefährtinnen von weitem durch das Sieb seiner Augen.
Mit ihren Tausenden von Facettenaugen sehen die Ameisen kein tausendfach wiederholtes Bild, sondern eine Art Gitter. Sie haben Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Dafür nehmen sie die feinsten Bewegungen wahr.
Die Kundschafterinnen dieser Expedition machen einen kampfeserprobten, weitgereisten Eindruck. Ihre schweren Bäuche sind mit Säure angefüllt. Ihre Köpfe sind mit überaus mächtigen Waffen behangen. Ihre Panzer weisen die Spuren feindlicher Mandibeln auf.