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Bei den meisten Insekten sind die Männchen darauf programmiert, bei ihrem ersten Liebesakt zu sterben. Ihnen steht nur ein einziger coup zu, der richtige. Wenn die Spermien den Körper verlassen, nehmen sie das Leben ihres Besitzers mit sich.

Bei den Ameisen tötet die Ejakulation das Männchen. Bei anderen Arten ermordet das Weibchen, gerade erst beglückt, seinen Wohltäter. Einfach, weil die Erregung Appetit gemacht hat.

Man muß sich den Tatsachen beugen: Die Welt der Insekten ist im Ganzen eine Welt der Weibchen, genauer gesagt der Witwen. Die Männchen haben darin nur vorübergehend Platz.

Aber schon klammert sich ein zweiter Erzeuger an sie. Kaum ist der eine gegangen, wird er schon ersetzt! Es folgt ein dritter, dann noch viele andere. Nr. 56 zählt sie nicht mehr. Mindestens siebzehn oder achtzehn lösen einander ab, um ihre Spermathek mit frischen Keimzellen zu füllen.

Sie spürt die lebende Flüssigkeit, die in ihrem Hinterleib brodelt. Das ist der Vorrat ihrer zukünftigen Stadt. Millionen von männlichen Fortpflanzungszellen, die es ihr ermöglichen werden, fünfzehn Jahre lang täglich Eier zu legen.

Rings um sie werden ihre Schwestern von den gleichen Empfindungen erfüllt. Der Himmel ist voll von fliegenden Weibchen, die von einem oder sogar mehreren Männchen bestiegen werden, die sich gemeinsam mit dem gleichen Weibchen paaren. Liebeskarawanen, die in den Wolken hängen. Diese Damen sind trunken vor Müdigkeit und Glück. Sie sind keine Prinzessinnen mehr, sie sind Königinnen. Ihre wiederholte Wonne hat sie ganz benommen gemacht, und es fällt ihnen recht schwer, ihren Kurs zu halten.

Diesen Augenblick haben vier majestätische Schwalben ausgesucht, um aus einem blühenden Kirschbaum aufzutauchen. Sie fliegen nicht, sie gleiten mit einer Unbewegtheit zwischen den Schichten des Himmels, die einen erstarren läßt ... Sie stürzen sich mit weit offenem Schnabel auf die Ameisen und verschlingen sie eine nach der andern. Auch Nr. 56 wird von ihnen gejagt.

Nr. 103 683 befindet sich im Saal der Kundschafterinnen. Eigentlich hatte sie vor, die Ermittlungen allein weiterzuführen und sich in den Termitenhügel des Ostens zu schleichen, aber man hat sie aufgefordert, sich einer Gruppe von Kundschafterinnen anzuschließen und mit ihnen die »Jagd auf den Drachen« aufzunehmen. Tatsächlich ist in der Nähe der Weidefläche der Stadt Zubi-zubi-kan, die über den größten Viehbestand der ganzen Föderation verfügt (9 Millionen Tiere, die zu melken sind), eine Eidechse gesichtet worden. Und die Anwesenheit eines dieser Saurier kann die Arbeit der Hirten empfindlich stören.

Zum Glück liegt Zubi-zubi-kan an der östlichen Grenze der Föderation, genau auf halbem Weg zwischen der Termitenstadt und Bel-o-kan. Nr. 103 683 hat also eingewilligt, an dieser Expedition teilzunehmen. So kann sie unbemerkt nach Osten aufbrechen.

Ringsum bereiten sich die Kundschafterinnen sorgfältig vor. Sie füllen ihren Sozialkropf bis zum Rand mit süßen Energiereserven und ergänzen ihre Säurevorräte. Danach reiben sie sich mit Schneckenschleim ein, um sich gegen die Kälte und auch (jetzt wissen sie Bescheid) die Sporen der alternaria zu schützen.

Sie reden über die Jagd auf die Eidechse. Einige vergleichen sie mit dem Salamander oder den Fröschen, aber die Mehrheit der zweiunddreißig Kundschafterinnen ist sich einig, ihr den ersten Rang zuzugestehen, was die Schwierigkeiten der Jagd betrifft.

Eine alte Kriegerin behauptet, die Eidechsen seien imstande, ihren Schwanz nachwachsen zu lassen, wenn er ihnen abgetrennt würde! Man macht sich über sie lustig ... Eine andere behauptet, sie habe gesehen, daß eines dieser Ungetüme 10° lang reglos wie ein Stein verharrt habe. Alle rufen sich die Berichte der ersten Belokanerinnen in Erinnerung, die mit bloßen Mandibeln gegen diese Monster vorgegangen seien -damals war die Verwendung der Ameisensäure noch nicht so verbreitet.

Nr. 103 683 läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie hat noch nie eine Eidechse gesehen, und die Aussicht, eine mit bloßen Mandibeln oder auch mit dem Säurestrahl anzugreifen, ist alles andere als beruhigend. Sie sagt sich, daß sie sich bei der erstbesten Gelegenheit verdrücken wird. Schließlich ist ihre Suche nach der »Geheimwaffe« wichtiger für das Überleben der Stadt als irgendein Jagdausflug.

Die Kundschafterinnen sind bereit. Sie steigen durch die Gänge des äußeren Gürtels nach oben, dann treten sie durch den Ausgang Nr. 7, den sogenannten »Ostausgang«, ins Freie.

Zunächst müssen sie sich durch die Randgebiete der Stadt kämpfen. Das ist gar nicht so einfach. In der gesamten Umgebung von Bel-o-kan wimmelt es von Arbeiterinnen und Soldatinnen, und eine hat es da eiliger als die andere.

Es gibt mehrere Ströme. Zahlreiche Ameisen sind mit Blättern. Früchten. Samenkörnern oder Pilzen beladen. Andere transportieren Zweige und Sternchen, die als Baumaterial verwendet werden. Wieder andere führen Wildbret mit sich ... Ein heilloses Durcheinander von Gerüchen.

Die Jägerinnen bahnen sich einen Weg durch die Stauungen. Dann wird der Verkehr flüssiger. Die große Allee verengt sich zu einer Straße von erst drei Kopf (neun Millimeter), dann zwei, später einem Kopf Breite. Sie müssen bereits weit von der Stadt entfernt sein, da sie deren Kollektivbotschaften nicht mehr empfangen. Die Gruppe hat die olfaktorische Nabelschnur durchtrennt und konstituiert sich zu einer autonomen Einheit. Sie wählt die Formation »Spaziergang«, bei der die Ameisen in Zweierreihen vorrücken.

Schon bald begegnet die Einheit einer anderen Gruppe von Kundschafterinnen. Sie müssen Schlimmes erlebt haben. Nur eine einzige Ameise der kleinen Truppe ist unverletzt. Ansonsten lauter Verstümmelte. Einige haben nur noch ein Bein und schleppen sich kläglich vorwärts. Denen, die keine Antennen oder keinen Hinterleib mehr haben, geht es nicht besser.

Nr. 103 683 hat seit dem Krieg am Klatschmohnhügel keine Soldatinnen mehr gesehen, die so übel zugerichtet waren. Sie müssen etwas Grauenvolles erlebt haben ... Vielleicht die Geheimwaffe?

Nr. 103 683 möchte mit einer großen Kriegerin, deren lange Mandibeln zerbrochen sind, einen Dialog aufnehmen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Waren es die Termiten?

Die andere geht langsamer und wendet ihr, ohne zu antworten, ihr Gesicht zu. Schrecklich, ihre Augenhöhlen sind leer! Und der Schädel ist vom Mund bis zum Halsgelenk gespalten.

Sie entfernt sich. Nr. 103 683 blickt ihr nach. Ein Stückchen weiter bricht sie zusammen und erhebt sich nicht mehr. Sie findet noch die Kraft, zur Seite zu kriechen, damit ihr Kadaver nicht den Weg versperrt.

Nr. 56 versucht der Schwalbe mit einem Sturzflug zu entgehen, aber jene ist zehnmal schneller. Schon senkt sich der Schatten eines großen Schnabels auf ihre Antennen. Der Schnabel holt sie ein, erfaßt ihren Hinterleib, ihren Thorax, ihren Kopf. Der Kontakt mit dem Gaumen ist unerträglich. Dann schließt sich der Schnabel. Es ist alles aus.

OPFER: Wenn man die Ameisen beobachtet, könnte man meinen, ihr Handeln sei von einem Streben diktiert, das nichts mit ihrer eigenen Existenz zu tun hat. Ein abgetrennter Kopf versucht sich noch nützlich zu machen, indem er gegnerische Beine beißt, ein Samenkorn abschneidet; ein Thorax schleppt sich voran, um den Feinden den Eingang zu versperren.

Selbstverleugnung? Fanatismus im Dienste der Stadt? Verdummung aufgrund von Kollektivismus?

Nein, die Ameise kann auch allein leben. Sie braucht ihr Volk nicht, sie kann sogar aufbegehren.

Warum opfert sie sich dann?

Bei dem jetzigen Stand meiner Arbeiten würde ich sagen: aus Bescheidenheit. Anscheinend ist für sie der Tod kein Ereignis, das wichtig genug wäre, sie von der Arbeit abzulenken, die sie in den Sekunden zuvor verrichtet hat.

Edmond Wells

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