Termiten?
Ihre Antennen senken sich. Sie hat nichts mehr zu sagen. Außerdem hat sie zu tun, eine Beute muß zerlegt werden. Sie hat genug Zeit verloren. Auf Wiedersehen. Sie dreht sich um, will verschwinden. Nr. 103 683 läßt nicht locker.
Die andere wirkt jetzt völlig verängstigt. Ihre Antennen zittern ein wenig. Offenbar erinnert sie das Wort Termiten an etwas Schreckliches. Darüber zu sprechen, scheint über ihre Kräfte zu gehen. Sie rennt auf eine Gruppe von Arbeiterinnen zu, die mitten in einem Zechgelage sind.
Letztere lecken einander in einer langen, geschlossenen Kette den Hinterleib, nachdem sie ihren Sozialkropf mit dem Alkohol aus Blütenhonig gefüllt haben.
Fünf Jägerinnen des Vorpostens treten geräuschvoll ein. Sie schieben eine Raupe vor sich her.
Die haben wir gefunden. Das Beste ist, die produziert Honig!
Die Ameise, die diese Neuigkeit verkündet hat, tippt der Gefangenen mit der Spitze ihrer Antennen auf den Kopf. Dann legt sie ein Blatt auf den Boden, und kaum beginnt die Raupe zu fressen, springt sie ihr auf den Rücken. Die Raupe bäumt sich auf, aber vergebens. Die Ameise schlägt ihr ihre Krallen in die Seiten, vergewissert sich ihres Griffs, dreht sich um und leckt ihr über das letzte Glied, bis ein Likör hervorquellt.
Alle gratulieren ihr. Man reicht sich diesen bislang unbekannten Honigtau der Pflanzenläuse. Er ist öliger und hat einen ausgeprägten Nachgeschmack von Saft. Während Nr. 103 683 diesen exotischen Likör kostet, streicht eine Antenne über ihren Schädel.
Ich habe gehört, du willst dich nach den Termiten erkundigen.
Die Ameise, die dieses Pheromon ausgestoßen hat, scheint sehr, sehr alt zu sein. Ihr ganzer Panzer ist von Mandibelbissen verschrammt. Nr. 103 683 legt ihre Antennen zum Zeichen der Zustimmung zurück.
Komm mit!
Sie ist die 4000. Kriegerin. Ihr Kopf ist flach wie ein Blatt. Ihre Augen sind winzig. Wenn sie sendet, riechen ihre Ausdünstungen schwach nach Alkohol. Vielleicht hat sie sich deshalb in eine winzige, so gut wie geschlossene Höhle zurückziehen wollen.
Keine Bange, hier können wir reden, dieses Loch ist meine Kammer.
Nr. 103 683 fragt, was sie über den Termitenhügel des Ostens weiß. Die andere spreizt ihre Antennen.
Warum interessierst du dich dafür? Du bist nicht nur wegen der Eidechse gekommen, nicht wahr?
Nr. 103 683 beschließt, dieser alten Geschlechtslosen gegenüber mit offenen Karten zu spielen. Sie erzählt ihr, daß eine geheime und unerklärliche Waffe gegen die Soldatinnen von La-chola-kan eingesetzt worden sei. Anfangs habe man geglaubt, es handele sich um einen Anschlag der Zwerginnen, aber sie seien es nicht gewesen. Also sei der Verdacht logischerweise auf die Termiten des Ostens gefallen, den zweiten großen Feind ...
Die Alte biegt ihre Antennen, um ihre Überraschung zu zeigen. Von dieser Geschichte hat sie noch nie gehört. Sie mustert Nr. 103 683 und fragt:
Und diese Geheimwaffe hat dir auch dein fünftes Bein ausgerissen?
Nr. 103 683 verneint. Das habe sie in der Schlacht am Klatschmohnhügel verloren, bei der Befreiung von La-chola-kan. Nr. 4000 ist sogleich begeistert. Da war sie auch!
Welche Einheit?
Fünfzehnte. Und du?
Dritte!
Während der letzten Attacke hat die eine auf der rechten, die andere auf der linken Flanke gekämpft. Sie tauschen einige Erinnerungen aus. Aus einer Schlacht sind stets viele Lehren zu ziehen. So ist Nr. 4000 zum Beispiel ganz zu Beginn der Kämpfe der Einsatz kleiner Mücken als Botschafter aufgefallen. Ihrer Meinung nach ist diese Methode der Kommunikation über große Entfernungen den traditionellen »Läuferinnen« weit überlegen.
Die belokanische Soldatin, die nichts davon bemerkt hat, stimmt ihr bereitwillig zu. Dann kommt sie schnell auf ihr Thema zurück.
Warum will mir niemand etwas über die Termiten erzählen?
Die alte Kriegerin tritt näher. Ihre Köpfe berühren sich.
Auch hier gehen sehr merkwürdige Dinge vor ...
Ihre Düfte suggerieren Rätselhaftes. Sehr merkwürdige Dinge, sehr merkwürdige Dinge ... Der Satz prallt als olfaktorisches Echo von den Wänden ab.
Dann erklärt Nr. 4000, daß man seit einiger Zeit keine einzige Termite aus der Stadt des Ostens mehr gesehen habe. Früher hätten sie die Passage bei Satei benutzt, um Spioninnen über den Fluß zu schicken. Man habe davon gewußt und sie, so gut es ging, kontrolliert. Jetzt gebe es nicht einmal mehr Spioninnen. Nichts mehr.
Ein Feind, der angreift, das ist beunruhigend, aber ein Feind, der verschwindet, das ist noch viel verwirrender. Da es nicht mehr das geringste Geplänkel mit den Termitenkundschafterinnen gab, hätten die Ameisen des Postens Guayei-Tyolot beschlossen, ihrerseits Spioninnen auszuschicken.
Ein erster Schwarm von Kundschafterinnen sei aufgebrochen. Man habe nie mehr etwas von ihm gehört. Darauf sei eine zweite Gruppe ausgerückt und auf die gleiche Weise verschwunden. Man habe an die Eidechse oder einen besonders gefräßigen Igel gedacht. Andererseits, bei einem Angriff eines Raubtiers gebe es stets eine Überlebende, wenn sie auch verletzt ist. Aber das hier, das war, als hätten sich die Soldatinnen wie von Zauberhand in Luft aufgelöst.
Das erinnert mich an etwas ..., setzt Nr. 103 683 an.
Aber die Alte hat nicht vor, sich in ihrem Bericht unterbrechen zu lassen. Sie fährt fort:
Nach dem Fehlschlag der beiden ersten Expeditionen hätten die Kriegerinnen von Guayei-Tyolot beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Sie hätten eine Mini-Legion von fünfhundert schwer bewaffneten Soldatinnen losgeschickt. Diesmal habe es eine Überlebende gegeben. Sie habe sich über mehrere tausend Kopf geschleppt und sei unter grauenvollen Qualen bei ihrem Eintreffen im Nest gestorben.
Man habe den Kadaver untersucht, der nicht die geringste Verletzung aufwies. Und ihre Antennen hätten keinerlei Kampfspuren aufgezeigt. Als ob sich der Tod aus heiterem Himmel über sie hergemacht habe.
Verstehst du jetzt, warum niemand mit dir über den Termitenhügel des Ostens reden will?
Nr. 103 683 versteht. Sie ist vor allem froh, daß sie die richtige Spur gefunden hat. Wenn das Rätsel der Geheimwaffe gelöst werden kann, dann sicher über den Termitenhügel des Ostens.
holographie: Was das menschliche Gehirn und der Ameisenhaufen gemeinsam haben, kann am besten mit einem holographischen Bild verglichen werden.
Was ist Holographie? Ein Übereinanderlegen von Streifen, in die etwas eingraviert wurde und die, wenn sie vereinigt und in einem bestimmten Winkel angestrahlt werden, den Eindruck eines plastischen Bildes hervorrufen.
Tatsächlich existiert jenes überall und nirgends zugleich.
Aus der Vereinigung der Streifen entsteht etwas anderes, eine dritte Dimension: die Illusion einer Tiefenwirkung.
Jedes Neuron unseres Gehirns, jedes Individuum des Ameisenhaufens besitzt die gesamte Information. Aber die Kollektivität ist erforderlich, damit das Bewußtsein hervorkommt, das »plastische Denken«.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Denkens
Als Nr. 56, seit kurzem Königin, das Bewußtsein wiedererlangt, liegt sie auf einem breiten Strand von Kieselsteinen. Wahrscheinlich ist sie den Fröschen nur dank einer schnellen Strömung entkommen. Sie würde gern weiterfliegen, aber ihre Flügel sind noch naß. Also warten ...