»Man muß anders denken«, sagte er laut. Er war selbst verdutzt, denn der Satz war ganz von selbst gekommen. Er überlegte lang, ohne es zu wagen, die Tastatur zu berühren. Es folgte ein inneres Schweigen, ein völliges Schweigen, das jegliches Denken verhinderte. Das ihn jedoch unerklärlicherweise dazu brachte, eine Folge von acht Buchstaben einzugeben.
Das leise Surren eines Mechanismus war zu vernehmen, und dann ... dann schwenkte die Mauer herum! Aufgeregt, zu allem bereit, schritt Nicolas voran. Aber kurz darauf schlug die Mauer wieder zu; der Luftzug, der dabei entstand, löschte den Fackelstummel, der ihm noch verblieben war.
Völlig verwirrt, von tiefster Finsternis umgeben, machte Nicolas kehrt. Aber auf dieser Seite der Mauer gab es keine Tastatur. Keine Rückkehr möglich. Er brach sich die Nägel an den Beton- und Stahlplatten ab. Sein Vater hatte gute Arbeit geleistet, er war nicht umsonst Schlosser.
Sauberkeit: Gibt es etwas Saubereres als eine Fliege? Sie putzt sich ständig, weil das für sie keine Pflicht, sondern ein Bedürfnis ist. Wenn ihre Antennen und Facettenaugen nicht makellos sauber sind, erkennt sie die ferne Nahrung nicht und sieht niemals die Hand, die hinuntersaust, um sie zu zerquetschen. Die Sauberkeit ist ein wesentliches Moment des Überlebens bei den Insekten.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Am nächsten Morgen lauteten die Schlagzeilen der Boulevardpresse:
»Der unheimliche Keller in Fontainebleau hat wieder zugeschlagen! Ein weiterer Vermißter: der einzige Sohn der Familie Wells. Was macht die Polizei?«
Die Spinne blickt vom Gipfel ihres Farns hinab. Er ist sehr hoch. Sie schwitzt einen Tropfen flüssiger Seide aus, klebt ihn an das Blatt, bewegt sich zum Rand des Zweiges vor und springt ins Leere. Ihr Fall dauert eine Weile. Der Faden dehnt sich und dehnt sich, dann trocknet er, verhärtet sich und fängt sie auf, kurz bevor sie den Boden erreicht. Fast wäre sie zerquetscht worden wie eine reife Beere. Viele ihrer Schwestern haben sich wegen einer unerwarteten Kälte, die die Verhärtung der Seide verzögert, bereits zu Tode gestürzt.
Die Spinne bewegt ihre acht Beine, um das Gleichgewicht zu erlangen, dann streckt sie sie aus, und es gelingt ihr, sich auf ein Blatt zu schwingen. Das wird der zweite Verankerungspunkt ihres Netzes sein. Sie klebt das Ende ihres Fadens fest. Aber mit nur einer Schnur kommt man nicht weit. Sie erblickt einen Baumstamm zu ihrer Linken, läuft auf ihn zu. Noch ein paar Äste und ein paar Sprünge, dann hat sie es geschafft, sie hat ihre Trägerfäden befestigt, die dazu dienen, den Druck des Windes und der Beute abzufangen. Das Ganze bildet ein Achteck.
Die Seide der Spinne besteht aus einem faserigen Protein, dem Fibroin, dessen Haltbarkeit und Undurchlässigkeit unübertroffen ist. Einige Spinnen sind, wenn sie gut gefressen haben, in der Lage, siebenhundert Meter Seide mit einem Durchmesser von zwei Mikron zu produzieren, eine Seide, deren Haltbarkeit proportional der des Nylons gleichkommt, die jedoch dreimal elastischer ist.
Und obendrein verfügen sie über sieben Drüsen, die jeweils einen unterschiedlichen Faden produzieren: eine Seide für die »Trägerseile«; eine für die Fäden zum Abseilen; eine für die Fäden in der Mitte des Netzes; eine, die mit Klebstoff überzogen ist, für einen raschen Fang; eine, um sich einen Schutz zu bauen; eine, um die Beute einzuwickeln ...
In Wirklichkeit ist diese Seide der faserige Fortsatz der Spinnenhormone, so wie die Pheromone der flüchtige Fortsatz der Ameisenhormone sind.
Die Spinne spinnt also ihre Trägerfäden, dann macht sie sich daran fest. Beim geringsten Alarm läßt sie sich fallen, entgeht so ohne großen Kraftaufwand der Gefahr. Wie oft ist sie auf diese Art mit dem Leben davongekommen?
Anschließend verflechtet sie vier Fäden in der Mitte ihres Achtecks. Immer das gleiche Tun, seit Millionen von Jahren ... Allmählich nimmt die Sache Gestalt an. Heute hat sie beschlossen, ein Netz aus trockener Seide zu machen. Die Netze aus mit Klebstoff versehener Seide sind effektiver, aber zu anfällig. Jedes Staub körnchen, jeder vertrocknete Pflanzenstengel verfängt sich darin. Die trockene Seide ist weniger beuteträchtig, aber sie hält mindestens bis zur Nacht.
Kaum hoch oben in ihren »Trägerbalken« plaziert, fügt die Spinne ein Dutzend Querverstrebungen hinzu und vollendet ihr Werk mit der zentralen Spirale. Das ist das Angenehmste. Sie geht von einem Ast aus, an dem sie ihren trockenen Faden befestigt hat, und springt von Speiche zu Speiche. Dabei nähert sie sich, immer in Richtung der Erdrotation, so langsam wie möglich der Mitte.
Sie macht das auf ihre eigene Art. Es gibt auf der Welt keine zwei Spinngewebe, die einander gleichen. Sie sind wie die Fingerabdrücke des Menschen.
Sie muß die Maschen zusammenziehen. In der Mitte angelangt, betrachtet sie ihr Gewebe, um dessen Haltbarkeit abzuschätzen. Sie schreitet jede Speiche ab, schüttelt sie mit ihren acht Beinen. Sie halten.
Die meisten Spinnen der Region bauen Netze von 75:12. Fünfundsiebzig spiralförmig gewundene Fäden auf zwölf Speichen. Sie, sie zieht ein Verhältnis von 95:10 vor, ein besonders feines Flechtwerk.
Das fällt vielleicht eher auf, aber es ist haltbarer. Und da sie trockene Seide verwendet, braucht sie mit den Fäden nicht zu knausern. Sonst würden ihr die Insekten nur einen kurzen Besuch abstatten ...
Dennoch ist sie von dieser langwierigen Arbeit erschöpft. Sie muß unbedingt etwas in den Magen bekommen. Das ist ein ewiges Karussell. Sie ist hungrig, weil sie ihr Netz gebaut hat, aber ebendieses Netz gibt ihr die Möglichkeit, etwas zu fressen.
Unter einem Blatt versteckt, die vierundzwanzig Krallen auf die Hauptträger gedrückt, wartet sie. Ohne sich eines ihrer acht Augen bedienen zu müssen, spürt sie den Raum und erfaßt mit ihren Beinen den geringsten Luftzug, und zwar dank ihres Netzes, das auf alles mit der Empfindlichkeit der Membran eines Mikrophons reagiert.
Diese winzige Schwingung da, das ist eine Biene, die in zweihundert Kopf Entfernung Achten beschreibt, um den Mitbewohnern ihres Stocks die Lage eines Blumenfelds mitzuteilen.
Und dieses leichte Zucken, das muß eine Libelle sein. Sehr schmackhaft, die Libelle. Aber die da fliegt in der falschen Richtung und kann nicht als Mittagessen herhalten.
Schwere Erschütterung. Jemand ist auf das Netz gesprungen. Eine Spinne, die sich die Arbeit von jemand anders zunutze machen möchte. Diebin! Die erste verscheucht sie schleunigst, bevor eine Beute auftaucht.
Im nächsten Moment spürt sie in ihrem linken Hinterbein, daß sich von Osten her eine Art Fliege nähert. Sie scheint nicht besonders schnell unterwegs zu sein. Wenn sie den Kurs nicht
ändert, müßte sie geradewegs in die Falle gehen.
Klatsch! Treffer.
Eine geflügelte Ameise ...
Die Spinne - die keinen Namen hat, denn die einsam lebenden Wesen brauchen sich untereinander nicht zu benennen - wartet gelassen ab. Als sie jünger war, hat sie sich oft in ihrer Begeisterung hinreißen lassen und auf diese Art allerlei Beute verloren. Sie hat geglaubt, jedes Insekt, das ihr ins Netz geht, sei zum Tode verurteilt. Dabei ist das nur zu fünfzig Prozent der Fall. Der Zeitfaktor ist ausschlaggebend.
Man muß Geduld haben, das zu Tode erschrockene Opfer verheddert sich ganz von allein. Denn so lautet die ausgeklügelte Philosophie der Spinnen: Es gibt keine bessere Kampftechnik, als darauf zu warten, daß sich dein Opfer selbst zerstört ...
Nach einigen Minuten kommt sie näher, um ihre Beute genauer zu betrachten. Eine Königin. Eine rote Königin aus dem Reich des Westens. Aus Bel-o-kan.
Sie hat bereits von diesem hochentwickelten Reich gehört. Seine Millionen von Bewohnern sind angeblich so sehr voneinander abhängig, daß sie sich nicht einmal allein ernähren können! Was hat das für einen Sinn, worin besteht da der Fortschritt?