An diesem Morgen stopfen sich Nr. 103 683 und Nr. 4000 mit Schneckenfleisch voll. Sie zerschneiden es in Scheiben und verzehren es als lauwarmes, im eigenen Schleim schwimmendes Steak. Sie finden sogar den mit Eiern gefüllten vaginalen Beutel. Schneckenkaviar! Eine der Lieblingsspeisen der roten Ameisen, eine wertvolle Quelle von Vitaminen, Fett, Zucker und Proteinen .
Den Sozialkropf bis zum Rand gefüllt und mit Sonnenenergie aufgeladen, machen sie sich festen Schritts wieder auf den Weg nach Südosten.
analyse der Pheromonen (34. Experiment): Es ist mir mittels eines Massenspektrometers und eines Chromatographen gelungen, einige der Kommunikationsmoleküle der Ameisen zu identifizieren. Infolgedessen konnte ich eine chemische Analyse einer um 10 Uhr abends »abgehörten« Kommunikation zwischen einem Männchen und einer Arbeiterin vornehmen. Das Männchen hat ein Stück Toastbrot entdeckt. Hier die Analyse dessen, was es von sich gegeben hat:
- Methyl-6
- Methyl-4 Hexanon-3 (2 Ausstöße)
- Keton
- Oktanon-3
Dann erneut:
- Keton
- Oktanon-3 (2 Ausstöße)
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Unterwegs begegnen sie weiteren Schnecken. Sie verstecken sich allesamt, als hätten sie einander zugeflüstert: »Diese Ameisen sind gefährlich.« Eine jedoch versteckt sich nicht. Sie zeigt sich sogar unverhüllt.
Neugierig krabbeln die beiden Ameisen auf sie zu. Das Tier ist von etwas Schwerem zermalmt worden. Sein Gehäuse ist zertrümmert. Sein Körper ist geplatzt und weit im Umkreis verteilt. Nr. 103 683 muß sogleich an die geheime Waffe der Termiten denken. Sie müssen ganz in der Nähe der feindlichen Stadt sein. Sie schaut sich den Kadaver genauer an. Der Schlag war umfassend, kurz und äußerst heftig. Kein Wunder, daß es ihnen mit einer solchen Waffe gelungen ist, den Posten von La-chola-kan zu zerfetzen!
Nr. 103 683 ist fest entschlossen. Sie müssen in die Termitenstadt eindringen und diese Waffe verstecken, besser noch stehlen. Sonst läuft die ganze Föderation Gefahr, vernichtet zu werden!
Aber plötzlich kommt starker Wind auf. Sie kommen nicht mehr dazu, sich mit ihren Krallen an der Erde festzuhalten. Der Sturm trägt sie gen Himmel. Nr. 103 683 und Nr. 4000 haben keine Flügel . Dennoch fliegen sie.
Einige Stunden später - der Trupp oben döste selig vor sich hin - begann das Walkie-talkie wieder zu rauschen.
»Hallo, Madame Doumeng! Es ist soweit, wir sind unten angekommen.«
»Und? Was sehen Sie?«
»Das ist eine Sackgasse. Wir stehen vor einer Mauer aus Beton und Stahl, die erst kürzlich errichtet worden ist. Man könnte meinen, hier wäre Schluß ... Da ist noch eine Inschrift.«
»Lesen Sie vor!«
»Wie bildet man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern?«
»Das ist alles?«
»Nein, da sind noch Tasten mit Buchstaben. Die sind bestimmt dazu da, die Antwort einzugeben.«
»Gibt es keine Seitengänge?«
»Nichts.«
»Und die Leichen der anderen sind auch nicht zu sehen?«
»Nein, nichts ... Hmm ... Aber da sind Fußspuren. Als hätten jede Menge Leute genau vor dieser Mauer auf den Boden gestampft.«
»Was jetzt?« wisperte einer der Gendarmen. »Gehen wir zurück?«
Bilsheim untersuchte aufmerksam das Hindernis. Hinter all diesen Symbolen, all diesen Stahl- und Betonplatten verbarg sich ein Mechanismus. Und außerdem, wo waren all die anderen abgeblieben?
Hinter ihm setzten sich die Gendarmen auf die Stufen. Er konzentrierte sich auf die Tasten. Kein Zweifel, man mußte all diese Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge eingeben. Jonathan Wells war Schlosser, er hatte bestimmt die Sicherheitssysteme der Haustüren angewandt. Man mußte das Kodewort finden.
Er wandte sich um.
»Habt ihr Streichhölzer, Jungs?«
Das Walkie-talkie wurde ungeduldig.
»Hallo, Kommissar Bilsheim, was machen Sie?«
»Wenn Sie uns wirklich helfen wollen: Versuchen Sie, vier Dreiecke mit sechs Streichhölzern zu bilden. Wenn Sie die Lösung haben, sagen Sie mir Bescheid.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen. Bilsheim?«
Der Sturm flaut endlich ab. Innerhalb weniger Sekunden läßt der Wind von seinem Tanz ab. Blätter, Staub, Insekten sind wieder den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen und stürzen, ganz nach ihrem jeweiligen Gewicht, nach unten.
Nr. 103 683 und Nr. 4000 landen einige Dutzend Köpfe voneinander entfernt auf dem Boden. Unversehrt finden sie einander wieder und untersuchen die Umgebung: eine steinige Gegend, die in nichts der Landschaft ähnelt, die sie verlassen haben. Kein einziger Baum, nur ein paar wildwachsende Gräser, die von den Launen des Winds zerstreut wurden. Sie wissen nicht, wo sie sind ...
Als sie, so gut es geht, ihre Kräfte sammeln, um diesen düsteren Ort zu verlassen, beschließt der Himmel, erneut seine Macht zu zeigen. Wolken ballen sich zusammen, werden schwarz. Ein Blitz zerschneidet die Luft und entlädt die gesamte elektrische Spannung, die sich angestaut hat.
Sämtliche Tiere haben diese Nachricht der Natur verstanden.
Die Frösche hüpfen davon, die Fliegen verstecken sich unter den Steinen, die Vögel fliegen tief.
Die ersten Regentropfen fallen. Die beiden Ameisen müssen schleunigst einen Unterschlupf finden. Jeder Tropfen kann tödlich sein. Sie eilen auf ein vorstehendes Gebilde zu, das sich in der Ferne abhebt, ein Baum oder Fels.
Nach und nach zeichnet sich das Gebilde durch den dichten Regen und den kriechenden Dunst deutlicher ab. Das ist kein Fels, auch kein Strauch. Das ist eine wahre Kathedrale aus Erde, und die Spitzen ihrer zahlreichen Türme verschwinden in den Wolken. Entsetzen.
Ein Termitenhügel! Der Termitenhügel des Ostens!
Nr. 103 683 und Nr. 4000 sind zwischen dem schrecklichen Gewitterregen und der feindlichen Stadt eingeklemmt. Sicher hatten sie vor, sie aufzusuchen, aber nicht unter solchen Bedingungen! Millionen Jahre voll Haß und Rivalität halten sie zurück.
Aber nicht lange. Schließlich sind sie hierhergekommen, um den Termitenhügel auszuspionieren. Also halten sie zitternd auf einen dunklen Eingang am Fuße des Gebäudes zu. Die Antennen aufgerichtet. Mandibeln gespreizt, die Beine leicht durchgebogen, sind sie entschlossen, ihr Leben teuer zu verkaufen. Wider Erwarten befindet sich jedoch keine Wache am Eingang des Termitenhügels.
Das ist überhaupt nicht üblich. Was geht hier vor?
Die beiden Geschlechtslosen dringen in das Innere der riesigen Stadt vor. Vor Neugier lassen sie es fast an der elementarsten Vorsicht fehlen.
Man muß sagen, daß die Räumlichkeiten in nichts einem Termitenhügel gleichen. Die Wände sind aus einem viel weniger bröckeligen Material als Erde, ein Zement, hart wie Holz. Die Gänge sind mit Feuchtigkeit gesättigt. Es weht nicht das geringste Lüftchen. Und die Atmosphäre ist auffällig reich an Kohlendioxid.
Jetzt rücken sie schon eine ganze Weile da drinnen vor, ohne auch nur einer Wache begegnet zu sein! Das ist ganz und gar außergewöhnlich ... Die beiden Ameisen bleiben stehen, berühren sich mit den Antennen, um zu beratschlagen. Der Entschluß ist schnell gefaßt: Weiter!
Aber in ihrem Vorwärtsdrang haben sie sich vollkommen verlaufen. Diese seltsame Stadt ist ein Labyrinth, schlimmer noch als ihre Geburtsstadt. Selbst die Markierungsduftstoffe ihrer Drüsen finden keinerlei Halt an den Wänden. Sie wissen nicht mehr, ob sie über oder unter der Erde sind!