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Am Ende ihrer Reise entdeckten sie zwei unbegreifliche Dinge: 1) das unendlich weite Meer. 2) die hellhäutigen Europäer. Nun, das Meer, selbst wenn sie es noch nie gesehen hatten, war ihnen aufgrund von Erzählungen als das Reich der Toten bekannt. Die Weißen hingegen waren für sie so etwas wie Außerirdische, sie hatten einen seltsamen Geruch, sie hatten eine seltsame Hautfarbe, sie trugen seltsame Kleider.

Viele starben vor Angst, andere sprangen wie von Sinnen von den Schiffen und wurden von Haien gefressen. Die Überlebenden erwartete eine Überraschung nach der anderen. Was sahen sie? Zum Beispiel, daß die Weißen Wein tranken. Und sie waren sicher, daß es Blut sei, das Blut der Ihren.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Das Weibchen Nr. 56 ist hungrig. Und nicht nur ihr Körper, sondern ein ganzes Volk verlangt nach seiner Ration. Wie soll sie die Meute ernähren, die sie in ihrem Schoß beherbergt? Sie entschließt sich, aus ihrem Loch, in dem sie legen wollte, herauszukriechen, schleppt sich über eine Strecke von ein paar hundert Kopf und kehrt mit drei Kiefernnadeln zurück, an denen sie gierig leckt und kaut.

Das reicht nicht. Sie wäre gern auf die Jagd gegangen, doch sie hat keine Kraft mehr. Und sie selbst droht ein gefundenes Fressen für Tausende von Räubern zu werden, die in der Umgebung lauern. Also zwängt sie sich in ihr Loch, um auf den Tod zu warten.

Statt dessen kommt ein Ei zum Vorschein. Ihr erster Chlipukaner! Sie hat ihn kaum bemerkt. Sie hat ihre tauben Beine geschüttelt und mit aller Kraft auf ihre Därme gepreßt. Das muß einfach gehen, sonst ist alles vorbei. Das Ei kullert heraus. Es ist klein, dunkelgrau, fast schwarz.

Wenn sie ihn ausschlüpfen läßt, wird sie eine tote Ameise gebären. Zudem ... Sie wäre nicht einmal in der Lage, ihn bis zum Ausschlüpfen zu ernähren. Also frißt sie ihren ersten Sprößling.

Das versetzt ihr sogleich einen Energieschub. In ihrem Hinterleib ist ein Ei weniger, in ihrem Magen eins mehr. Dieses Opfer verleiht ihr die Kraft, ein zweites, ebenso dunkles Ei, ebenso kleines Ei zu legen.

Sie verzehrt es genießerisch. Und fühlt sich noch besser. Das dritte Ei ist kaum heller. Sie verzehrt es dennoch.

Erst beim zehnten Ei ändert die Königin ihre Strategie. Ihre Eier sind grau geworden, sie haben die Größe ihrer Augäpfel. Chli-pu-ni legt drei dieser grauen Eier, eines frißt sie, die anderen beiden läßt sie leben, wärmt sie unter ihrem Körper.

Während sie weiterhin ein Ei nach dem anderen legt, verwandeln sich die beiden Glückspilze in lange Larven, deren Gesichter in einer seltsamen Fratze erstarrt sind. Und sie beginnen zu wimmern, verlangen nach Nahrung. Die Arithmetik wird komplizierter. Von drei gelegten Eiern brauchte sie nun eines für sich und die beiden anderen für die Larven.

Und so, in einem geschlossenen Kreis, gelingt es, aus nichts etwas zu erschaffen. Wenn eine Larve groß genug ist, gibt sie ihr eine andere Larve zu essen ... Das ist die einzige Möglichkeit, ihr die Proteine zu verschaffen, die zu ihrer Umwandlung in eine richtige Ameise erforderlich sind.

Aber die überlebende Larve ist immer noch hungrig. Sie windet sich, schreit. Der Schmaus, das Opfer ihrer Schwestern, hat sie nicht sättigen können. Schließlich frißt Chli-pu-ni diesen ersten Versuch, ein Kind zur Welt zu bringen.

Ich muß es schaffen, ich muß es schaffen, trichtert sie sich ein. Sie denkt an das Männchen Nr. 327 und legt fünf hellere Eier auf einmal. Zwei davon verschlingt sie, die anderen drei läßt sie wachsen.

Auf diese Weise, ein Staffellauf zwischen Kindesmord und Gebären, entsteht Leben. Drei Schritte vor, zwei zurück. Eine grausame Übung, die schließlich in den ersten Prototyp einer kompletten Ameise mündet.

Das Insekt ist winzig und recht schwächlich, da unterernährt. Aber sie hat ihren ersten Chlipukaner zustande gebracht! Der durch Kannibalismus geprägte Weg zur Gründung ihrer Stadt ist zur Hälfte geschafft. Diese degenerierte Arbeiterin kann sich in der Tat bewegen und Lebensmittel aus der Umgebung herbeischaffen: Insektenkadaver, Körner, Blätter, Pilze ... Was sie auch tut.

Chli-pu-ni, endlich normal genährt, bringt nun viel hellere, viel festere Eier zur Welt. Die harten Schalen schützen die Eier vor der Kälte. Die Larven haben eine vernünftige Größe. Diese neue Generation von Nachkömmlingen ist groß und stark. Sie wird die Grundlage der Bevölkerung von Chli-pu-kan bilden.

Die erste, unterentwickelte Arbeiterin, die ihre Königin ernährt hat, wird schon bald von ihren Schwestern umgebracht und verzehrt. Danach sind alle Morde, alle Schmerzen, die der Gründung des Staates vorausgegangen sind, vergessen.

Chli-pu-kan ist geboren.

MÜCKEN: Die Mücke ist das Insekt, das sich am liebsten mit dem Menschen duelliert. Jeder von uns hat bereits irgendwann im Pyjama auf dem Bett gestanden, einen Pantoffel in der Hand, den Blick lauernd auf die makellos weiße Wand gerichtet.

Unverständnis. Was da juckt, ist nur der desinfizierende Speichel ihres Saugrüssels. Ohne diesen Speichel würde sich jeder Stich infizieren. Zudem ist die Mücke so rücksichtsvoll, immer nur zwischen zwei Schmerzrezeptoren zu stechen.

Dem Menschen gegenüber hat sich die Strategie der Mücke weiterentwickelt. Sie ist schneller geworden, unauffälliger, flinker beim Abheben. Es wird immer schwieriger, sie zu entdecken. Einige ganz kecke der letzten Generation zögern nicht, sich unter dem Kopfkissen ihres Opfers zu verstecken. Sie haben das Prinzip des »Entwendeten Briefs« von Edgar Allen Poe entdeckt: Das beste Versteck ist jenes, das in die Augen springt, da man stets in der Ferne sucht, was ganz nah ist.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Großmutter Augusta betrachtete ihre bereits gepackten Koffer. Morgen würde sie in die Rue des Sybarites ziehen. Das mochte unglaublich erscheinen, aber Edmond hatte Jonathans Verschwinden vorhergesehen und in seinem Testament geschrieben: »Wenn Jonathan stirbt oder verschwindet und wenn er selbst kein Testament verfaßt hat, wünsche ich, daß Augusta Wells, meine Mutter, meine Wohnung bezieht. Wenn auch sie verschwindet oder wenn sie dieses Vermächtnis ablehnt, wünsche ich, daß Pierre Rosenfeld die Räumlichkeiten erbt. Wenn er es ebenfalls ablehnt oder verschwindet, könnte Jason Bragel dort einziehen ...« Man mußte zugeben, daß im Lichte der jüngsten Ereignisse Edmond allen Anlaß gehabt hatte, mindestens vier Erben einzusetzen. Aber Augusta war nicht abergläubisch, zudem war sie der Auffassung, daß Edmond, so menschenfeindlich er auch war, keinerlei Grund gehabt hätte, seinen Neffen und seine Mutter in den Tod zu schicken. Und Jason Bragel war sein bester Freund gewesen!

Ein seltsamer Gedanke ging ihr durch den Kopf. Man hatte den Eindruck, Edmond habe danach getrachtet, die Zukunft vorauszuplanen, so als ... begänne alles nach seinem Tod.

Seit Tagen schon ziehen sie in Richtung Sonnenaufgang. Die Gesundheit von Nr. 4000 verschlechtert sich mehr und mehr, aber die alte Kriegerin wandert weiter, ohne zu klagen. Ihr Mut und ihr Wissensdurst sind wirklich vorbildlich.

Eines Spätnachmittags, sie klettern gerade den Stamm eines Haselnußstrauchs empor, werden sie plötzlich von blutroten Wanderameisen umzingelt. Wieder Tiere aus dem Süden, die sich das Land ansehen wollen. Ihr länglicher Körper ist mit einem Giftstachel versehen, der bei der geringsten Berührung, wie jeder weiß, sofort den Tod herbeiführt. Die beiden wären lieber woanders.

Von einigen degenerierten Söldnern abgesehen, hat Nr. 103 683 in dem großen weiten Land noch nie blutrote Ameisen zu Gesicht bekommen. Wahrhaftig, es lohnt sich, die Gebiete des Ostens zu entdecken ...