Ihr habt nicht den richtigen Pheromonenpaß. Raus hier! Das ist unser Gebiet!
Antennenkontakt. Die blutroten Ameisen wissen sich in der Sprache der Belokanerinnen zu verständigen.
Die beiden antworten, daß sie nur auf der Durchreise sind, daß sie zum Ende der östlichen Welt gehen wollen. Die blutroten Ameisen beraten sich.
Sie haben die beiden anderen Mitglieder der Föderation der roten Ameisen erkannt. Die ist zwar weit entfernt, aber mächtig (64 Städte nach der letzten Schwarmzeit), und der Ruf ihrer Armeen ist über den Fluß des Westens hinausgelangt. Vielleicht ist es besser, keinen Konflikt zu provozieren. Eines Tages werden die Blutroten, die ja zu den Wanderameisen gehören, unweigerlich gezwungen sein, die vereinigten Gebiete der Roten zu durchqueren.
Der Antennenaufruhr läßt allmählich nach. Es ist Zeit für die Schlußfolgerung. Eine blutrote Ameise übermittelt die Meinung der Gruppe: Ihr könnt hier eine Nacht bleiben. Wir sind bereit, euch den Weg zum Ende der Welt zu zeigen und euch sogar dorthin zu begleiten. Als Gegenleistung überlaßt ihr uns einige eurer Identifikationspheromone.
Der Handel geht in Ordnung. Nr. 103 683 und Nr. 4000 wissen, daß sie mit der Übergabe ihrer Pheromone den blutroten Ameisen einen wertvollen Passierschein für das gesamte Gebiet der Föderation überlassen. Aber ans Ende der Welt zu gelangen und von dort zurückzukehren, dafür ist kein Preis zu hoch ...
Ihre Gastgeber führen sie zu dem einige Zweige höher gelegenen Lagerplatz. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mit allem, was sie kennen. Die blutroten Ameisen, die sich aufs Weben und Nähen verstehen, haben ihr provisorisches Nest errichtet, indem sie die Ränder dreier großer Blätter des Haselnußstrauchs zusammengenäht haben. Eines dient als Boden, die beiden anderen als Seitenwände.
Nr. 103 683 und Nr. 4000 beobachten eine Gruppe von Weberinnen, die damit beschäftigt sind, das »Dach« vor Einbruch der Dunkelheit zu schließen. Sie wählen ein Blatt aus, das als Deckel dienen wird. Um dieses Blatt mit den drei anderen zu verbinden, bilden sie eine lebende Leiter. Dutzende von Arbeiterinnen stapeln sich übereinander, bis sie einen kleinen Berg ergeben, von dem aus man das oberste Blatt erreichen kann.
Der Stapel bricht mehrmals zusammen. Er ist zu hoch.
Darauf wenden die blutroten Ameisen eine andere Methode an. Eine Gruppe von Arbeiterinnen schwingt sich auf das Blatt, das als Decke dienen soll, bildet eine Kette, die sich festklammert und am äußersten Rand des Blattes hängt. Die Kette läßt sich herab, läßt sich weiter herab, um sich mit der lebenden Leiter zu verbinden, die unten wartet. Das ist immer noch zu weit, also wird die Kette an ihrem Ende von einer Traube blutroter Ameisen beschwert.
Fast reicht es, der Stengel des Blattes hat sich durchgebogen. Es fehlen mir noch ein paar Zentimeter auf der rechten Seite. Die Ameisen der Kette nehmen eine Pendelbewegung vor, um den Zwischenraum zu überbrücken. Bei jedem Schwingen dehnt sich die Kette, sie scheint zu reißen, aber sie hält. Endlich vereinigen sich die Mandibeln der Akrobaten oben und jener unten: Klack!
Zweiter Schritt: Die Kette schrumpft zusammen. Die Arbeiterinnen in der Mitte verlassen mit äußerster Vorsicht ihren Platz, steigen auf die Schultern ihrer Kolleginnen, und alle ziehen, um die beiden Blätter zusammenzubringen. Das obere Blatt sinkt Stück für Stück tiefer, verteilt seinen Schatten über das Dorf.
Sicher, die Kiste hat ihren Deckel, doch jetzt gilt es, sie zu verschweißen. Eine alte blutrote Ameise stürzt in das Innere eines Hauses. Als sie wieder hervorkommt, schwenkt sie eine große Larve. Das ist das Webgerät.
Die Ränder werden genau zusammengefügt, man achtet darauf, daß keine Löcher entstehen. Dann wird die frische Larve herbeigebracht. Die Ärmste war gerade im Begriff, ihren Kokon zu fertigen, um in aller Ruhe heranzuwachsen. Man läßt sie nicht mehr dazu kommen. Eine Arbeiterin greift einen Faden aus diesem Knäuel und beginnt es abzuwickeln. Mit ein wenig Speichel klebt sie das Ende an ein Blatt und reicht den Kokon ihrer Nachbarin weiter.
Die Larve spürt, daß man ihr ihren Faden entreißt, und produziert einen neuen, um den Verlust auszugleichen. Je mehr man sie entblößt, um so kälter wird ihr und um so mehr Seide scheidet sie aus.
Die Arbeiterinnen reichen sich dieses lebende Webschiffchen von Mandibel zu Mandibel weiter und sparen dabei nicht an Garn. Wenn ihr Kind vor Erschöpfung stirbt, nehmen sie ein anderes. Zwölf Larven werden allein bei dieser Arbeit geopfert.
Nach einer Weile ist auch der zweite Rand der Decke verschlossen. Das Dorf bietet jetzt den Anblick einer grünen Kiste mit weißen Kanten. Nr. 103 683, die fast wie zu Hause darin herumwandert, fallen einige schwarze Ameisen inmitten der Menge der blutroten auf. Sie kann es sich nicht verkneifen, Fragen zu stellen.
Sind das Söldner?
Nein, das sind Sklaven.
Die blutroten Ameisen sind doch gar nicht als Sklavenhalter bekannt ... Eine von ihnen erklärt, daß sie kürzlich einer Horde von sklavenhaltenden Ameisen begegnet seien, die auf dem Weg nach Westen waren, und daß sie eine Anzahl Eier von schwarzen Ameisen gegen ein tragbares gewebtes Netz eingetauscht hätten.
Nr. 103 683 läßt so schnell nicht locker und fragt ihre Gesprächspartnerin, ob die Begegnung danach nicht in einen Kampf umgeschlagen sei. Nein, antwortet die andere, die fürchterlichen Ameisen seien bereits gesättigt gewesen, sie hatten schon viel zu viele Sklaven, außerdem hätten sie Angst vor dem tödlichen Stachel der blutroten gehabt.
Die aus den eingetauschten Eiern hervorgegangenen schwarzen Ameisen hatten die Duftausweise ihrer Gastgeber angenommen und dienten ihnen, als handelte es sich um ihre Eltern. Woher hätten sie auch wissen sollen, daß sie durch ihr genetisches Erbe eigentlich Raubameisen und keine Sklaven waren? Sie wissen nichts von der Welt außer dem, was ihnen die blutroten Ameisen zu erzählen bereit waren.
Habt ihr keine Angst, daß sie aufmüpfig werden?
Sicher, ein paarmal hätten sie schon aufgemuckt. Im allgemeinen schlossen die Blutroten derlei Vorfälle aus, indem sie die Störenfriede eliminierten. Solange die Schwarzen nicht wissen, daß sie aus einem Nest geraubt worden sind, daß sie zu einer anderen Art gehören, mangelt es ihnen an der rechten Motivation ...
Die Nacht und die Kälte senken sich über den Haselnußstrauch. Man weist den beiden Kundschafterinnen eine Ecke an, in der sie ihren nächtlichen Miniwinterschlaf halten können.
Chli-pu-kan wächst nach und nach. Zuerst hat man die Verbotene Stadt angelegt. Sie wurde nicht in einem Baumstumpf errichtet, sondern in einem merkwürdigen Ding, das dort vergraben war, einer verrosteten Konservenbüchse, die einst drei Kilo Kompott enthielt, ein Relikt aus einem nahe gelegenen Waisenhaus.
In diesem neuen Palast legt Chli-pu-ni wie eine Besessene, während man sie mit Zucker, Fett und Vitaminen vollstopft.
Die ersten Töchter haben unmittelbar unter der Verbotenen Stadt eine Krippe errichtet, die mit sich zersetzendem Humus beheizt wird. Das ist am praktischsten, solange die Kuppel aus Zweigen und das Solarium, die das Ende der Bauarbeiten markieren werden, nicht fertiggestellt sind.
Chli-pu-ni will, daß ihre Stadt alle bekannten technologischen Errungenschaften ausnutzt: Pilzkulturen, Flaschenkürbisse, Herden von Blattläusen, Efeustützen, Säle zur Gärung von Honigtau, Säle zur Produktion von Getreidemehl, Säle für Söldnerinnen und Spioninnen, Säle für organische Chemie usw.
Und in allen Ecken herrscht ein reges Treiben. Die junge Königin hat es verstanden, ihren Enthusiasmus und ihre Hoffnungen zu übertragen. Sie will nicht, daß Chli-pu-kan eine föderierte Stadt wie alle anderen wird. Sie strebt danach, sie zu einem avantgardistischen Zentrum zu machen, zur Speerspitze der Ameisenzivilisation. Sie sprüht vor Ideen.