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Ich habe Menschen gesehen, die bei der geringsten Kleinigkeit, bei der leichtesten Berührung litten, Schmerzen hatten, aber ihr Verstand verschloß sich deshalb nicht, sie blieben sensibel, für alles empfänglich, und sie lernten aus jeder Aggression.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Die Sklavenhalterinnen greifen an!

Panik in Chli-pu-kan. Erschöpfte Kundschafterinnen verbreiten die Nachricht in der jungen Stadt.

Die Sklavenhalterinnen! Die Sklavenhalterinnen!

Ihr fürchterlicher Ruf eilt ihnen voraus. So wie manche Ameisen diese oder jene Variante der Entwicklung gewählt haben - Erziehung und Aufzucht, Horten von Vorräten, Pilzzucht oder Chemie -, haben sich die Sklavenhalterinnen einzig auf die Domäne des Kriegs spezialisiert.

Sie können nichts anderes, aber das praktizieren sie als absolute Kunst. Und ihr ganzer Körper hat sich dem angepaßt. Jedes ihrer Gelenke mündet in einem Widerhaken, ihr Chitin ist doppelt so dick wie das der roten Ameisen. An ihrem schmalen und vollkommen dreieckigen Kopf findet man keinen Halt. Ihre Mandibeln, die aussehen wie umgedrehte Elefantenstoßzähne, sind geschwungene Säbel, die sie mit furchteinflößendem Geschick handhaben.

Ihre Gepflogenheit, sich Sklaven zu halten, entspringt ihrer außergewöhnlichen Spezialisierung. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Art wäre verschwunden, ausgerottet durch ihr eigenes Machtstreben. Vor lauter Kriegführen können diese Ameisen nicht einmal mehr ein Nest bauen, ihre Kleinen aufziehen oder gar ... sich ernähren. Ihre säbelartigen Mandibeln, im Krieg ungemein wirksam, erweisen sich als unpraktisch, um sich normal zu ernähren. Dennoch, so kriegslustig sie auch sein mögen, sind die Sklavenhalterinnen nicht dumm. Was soll’s, wenn sie nicht imstande sind, die für das tägliche Überleben häuslichen Aufgaben zu übernehmen ... Andere werden sich an ihrer Statt darum kümmern.

Die Sklavenhalterinnen vergreifen sich mit Vorliebe an den kleinen und mittelgroßen Nestern der schwarzen, weißen oder gelben Ameisen, alles Arten, die weder einen Stachel noch eine Säuredrüse haben. Als erstes umzingeln sie die Stadt, auf die sie ein Auge geworfen haben. Wenn die Belagerten dann feststellen, daß all ihre auswärtigen Arbeiterinnen umgebracht worden sind, beschließen sie, die Ausgänge zu verstopfen. Das ist der Augenblick, in dem die Sklavenhalterinnen ihren ersten Angriff starten. Sie durchbrechen mühelos die Verteidigungslinien, schlagen Breschen in die Stadt, verbreiten Panik in den Gängen.

Daraufhin versuchen die verängstigten Arbeiterinnen einen Ausfall, um die Eier in Sicherheit zu bringen. Genau das haben die Sklavenhalterinnen vorausgesehen. Sie sickern durch die Eingänge und zwingen die Arbeiterinnen, ihre kostbare Last abzugeben. Sie töten nur diejenigen, die um keinen Preis gehorchen wollen; bei den Ameisen tötet man nie grundlos.

Nach dem Ende des Kampfs umstellen die Sklavenhalterinnen das Nest und fordern die überlebenden Arbeiterinnen auf, die Eier wieder an ihren Platz zu bringen und sie weiterzupflegen. Wenn die Puppen schlüpfen, werden sie dazu erzogen, den Eindringlingen zu dienen, und da sie nichts von der Vergangenheit wissen, denken sie, es sei der gerechte und normale Weg, diesen großen Ameisen zu gehorchen.

Während der Beutezüge bleiben die langfristigen Sklaven im Gras versteckt zurück und warten, bis ihre Herrinnen in der Gegend aufgeräumt haben. Ist die Schlacht gewonnen, lassen sie sich als gute Hausfrauen in den Örtlichkeiten nieder, fügen die frisch erbeuteten Eier zu dem alten Vorrat hinzu, erziehen die Gefangenen und ihren Nachwuchs. So überlagern sich die Generationen der Gekidnappten je nach den Wanderungen ihrer Entführer.

In der Regel kommen auf jede dieser Räuberinnen drei Sklavinnen. Eine, um sie zu ernähren, sprich zu füttern (sie kann nur vorverdaute Nahrung fressen), eine, um sie zu waschen (ihre Speicheldrüsen sind verkümmert), und eine, um die Exkremente zu beseitigen, die sich ansonsten um den Panzer herum auftürmen und ihn verätzen würden.

Das Schlimmste, was diesen absoluten Soldatinnen passieren kann, ist natürlich, von ihren Dienerinnen verlassen zu werden. Dann stürzen sie fluchtartig aus dem gekaperten Nest und machen sich auf, um eine neue Stadt zu erobern. Finden sie diese nicht vor Einbruch der Nacht, können sie vor Hunger und Kälte sterben. Der lächerlichste Tod für diese großartigen Kriegerinnen.

Chli-pu-ni hat zahlreiche Legenden über die Sklavenhalterinnen gehört. Es heißt, es habe bereits Aufstände von Sklavinnen gegeben, und jene Sklavinnen, die ihre Herrinnen gut kannten, wären ihnen nicht unbedingt unterlegen. Es wird auch erzählt, daß manche Sklavenhalterinnen sich eine Kollektion von Eiern zulegen, um welche in allen Größen und aller Arten zu haben.

Sie stellt sich einen solchen Saal vor, der bis oben hin mit Eiern in allen Größen und Farben gefüllt ist. Und unter jeder dieser weißen Hülle ... ist eine spezifische Ameisenkultur, bereit, wach zu werden und diesen primitiven Rohlingen zu dienen.

Sie reißt sich aus ihren unangenehmen Gedanken. Als erstes muß man darüber nachdenken, wie man ihnen die Stirn bietet. Die Horde der Sklavenhalterinnen ist aus Osten kommend gemeldet worden. Sie sind durch den unterirdischen Gang bei Satei gekommen. Und sind anscheinend ziemlich »gereizt«, denn sie hatten ursprünglich ein »Wandernest« bei sich, von dem sie sich hatten trennen müssen, um den Tunnel zu durchqueren. Sie haben also keine Wohnung mehr, und wenn sie Chli-pu-kan nicht einnehmen, müssen sie die Nacht draußen verbringen!

Die junge Königin versucht so ruhig wie möglich nachzudenken: Wenn sie mit ihrem Wanderne st so glücklich waren, warum haben sie sich dann verpflichtet gefühlt, den Fluß zu überqueren? Aber sie kennt die Antwort.

Die Sklavenhalterinnen hegen gegenüber den Städten einen ebenso abgründigen wie unverständlichen Haß. Jede einzelne stellt für sie eine Drohung und eine Herausforderung dar, die ewige Rivalität zwischen den Leuten vom Land und denen in der Stadt. Die Sklavenhalterinnen wissen, daß es auf der anderen Seite des Flusses Hunderte von Ameisenstädten gibt, eine reicher und raffinierter als die andere.

Chli-pu-kan ist leider noch nicht soweit, einem solchen Ansturm standzuhalten. Sicher, seit einigen Tagen hat die Stadt gut eine Million Einwohner; sicher, sie haben an der Ostgrenze eine Mauer aus fleischfressenden Pflanzen errichtet ... Aber das wird niemals reichen. Chli-pu-ni weiß, daß ihre Stadt zu jung ist, zu unerfahren. Obendrein hat sie immer noch keine Nachricht von den Abgesandten, die sie nach Belo-kan geschickt hat, um ihre Zugehörigkeit zur Föderation zu verkünden. Sie kann also nicht auf die Solidarität der Nachbarstädte zählen. Selbst Guayei-Tyolot ist ein paar tausend Kopf entfernt. Es ist unmöglich, die Kriegerinnen dieses Sommernests zu benachrichtigen ...

Was hätte Belo-kiu-kiuni in einer solchen Situation getan?

Chli-pu-ni beschließt, einige ihrer besten Jägerinnen (sie hatten noch keine Gelegenheit, zu beweisen, daß sie Kriegerinnen sind) zu einer absoluten Kommunikation zusammenzurufen. Es ist höchste Zeit, eine Strategie auszuarbeiten.

Sie sind noch in der Verbotenen Stadt versammelt, als die in dem Strauch oberhalb der Stadt postierten Wachen verkünden, daß sie die Düfte einer herbeieilenden Armee wahrnehmen.

Alle bereiten sich vor. Es konnte keine Strategie abgesprochen werden. Man wird improvisieren. Das Klarmachen zum Gefecht wird ausgerufen, die Einheiten versammeln sich, so gut es geht (sie kennen noch keine der Formationen, die so teuer im Kampf mit den Zwerginnen erworben wurden). Tatsächlich setzen die meisten Soldatinnen ihre Hoffnungen lieber auf die Mauer der fleischfressenden Pflanzen.