Dann, kurz vor dem Ende, ist der Schrecken am größten. Schaudern, Zittern, kalter Schweiß, Entsetzen.
Dieser Phase folgt fast unmittelbar ein Aufstieg zum Licht, eine jähe Erleuchtung.
Ein wundervoller Lichtschein zieht den Blick auf sich, man durchquert Plätze und Weiden von unübertroffener Reinheit, auf denen Stimmen und Musik erklingen.
Heilige Worte flößen religiösen Respekt ein. Der vollkommene und eingeweihte Mensch wird frei, und er feiert das Mysterium.
Daniel macht ein Foto.
»Ich kenne diesen Text«, behauptet Jason. »Er ist von Plutarch.«
»Ein hübscher Text, wahrhaftig.«
»Jagt Ihnen das keine Angst ein?« fragt Augusta.
»Doch, aber das ist Absicht. Außerdem heißt es, daß auf den Schrecken die Erleuchtung folgt. Also, gehen wir schrittweise vor. Wenn ein wenig Schrecken vonnöten ist, lassen wir uns eben erschrecken.«
»Genau, die Ratten ...«
Es war, als hätte es gereicht, sie zu erwähnen. Sie waren da. Die drei Forscher spürten ihre unauffällige Gegenwart, spürten sie an dem Leder ihrer Schaftstiefel. Daniel drückte erneut auf den Auslöser. Das Blitzlicht offenbarte das abstoßende Bild eines ganzen Teppichs aus grauen Kugeln und schwarzen Ohren. Jason verteilte hastig die Masken, bevor er großzügig sein Tränengas versprühte. Die Nager brauchten keine zweite Aufforderung .
Der Abstieg ging weiter, und zwar noch lange.
»Wie wäre es mit einem kleinen Picknick, meine Herren?« schlug Augusta vor.
Also picknickten sie. Der Zwischenfall mit den Ratten schien vergessen, alle drei waren bester Laune. Da es ein wenig kalt war, beendeten sie ihren Imbiß mit einem tüchtigen Schluck Schnaps und einem guten brühwarmen Kaffee. Kräutertee gab es normalerweise nur am Nachmittag.
Sie müssen lange graben, bis sie in eine Zone gelangen, wo die Erde locker ist. Endlich dringt, einem Sehrohr gleich, ein Antennenpaar an die Oberfläche; unbekannte Gerüche überschwemmen es.
Die Luft ist rein. Sie sind auf der anderen Seite des Randes der Welt. Immer noch keine Mauer aus Wasser. Aber eine Welt, die wahrlich in nichts der anderen gleicht. Im Vordergrund sind noch einige Bäume und Grasflecken zu erkennen, aber dahinter erstreckt sich eine graue, harte, glatte Wüste. Kein einziger Ameisen- oder Termitenhügel in Sicht.
Sie riskieren einige Schritte. Aber um sie herum prasseln riesige schwarze Dinge auf den Boden. Ein wenig wie die Wächter, nur daß diese Dinge hier mehr aufs Geratewohl niedergehen.
Und das ist nicht alles. In der Ferne erhebt sich ein gigantischer Monolith, so hoch, daß ihre Antennen seine Spitze nicht wahrnehmen. Er verdunkelt den Himmel, er erdrückt die Erde.
Das muß die Mauer des Endes der Welt sein, und dahinter ist das Wasser, denkt Nr. 103 683.
Sie rücken noch ein wenig weiter vor, um plötzlich und unverhofft einer Gruppe von Schaben gegenüberzustehen, die sich an einer Stelle zusammendrängen. Durch ihren durchsichtigen Panzer sind sämtliche Eingeweide, sämtliche Organe und sogar das Blut zu erkennen, das durch die Adern strömt! Grauenhaft! Drei der Blattschneiderinnen treten den Rückzug an und werden von einem herab stürzenden Teil erschlagen.
Nr. 103 683 und ihre drei letzten Gefährtinnen beschließen trotz allem, weiterzugehen. An porösen kleinen Mauern vorbei halten sie weiter auf den unendlich hohen Monolithen zu. Plötzlich geraten sie in eine noch verwirrendere Gegend. Der Boden ist rot und hat eine körnige Oberfläche wie eine Erdbeere. Sie entdecken eine Art Brunnen und wollen gerade hinabsteigen, um ein wenig Schatten zu finden, als plötzlich eine schwere weiße Kugel von mindestens zehn Kopf Durchmesser am Himmel auftaucht, auf dem Boden aufprallt und sie verfolgt. Sie werfen sich in den Brunnen ... und haben gerade noch Zeit, sich gegen die Wand zu drücken, bevor die Kugel auf den Grund prallt.
Zu Tode erschrocken steigen sie wieder hinaus und laufen los. Der Boden ringsum ist blau, grün oder gelb, und überall sind diese Brunnen und diese weißen Kugeln, die einen verfolgen. Diesmal haben sie genug, jeder noch so große Mut hat seine Grenzen. Diese Welt ist viel zu anders, als daß man sie ertragen könnte.
Und so fliehen sie Hals über Kopf, stürzen in den unterirdischen Gang und kehren schleunigst in die normale Welt zurück.
Zivilisation (Fortsetzung): Ein anderer großer Aufeinanderprall von Zivilisationen: die Begegnung von Okzident und Orient.
Die Annalen des Chinesischen Reichs berichten (um das Jahr 115 unserer Zeitrechnung) von der Ankunft eines Schiffes wahrscheinlich römischen Ursprungs, das vom Sturm gebeutelt worden war und nach tagelangem Herumtreiben an der chinesischen Küste strandete.
Nun, die Passagiere waren Akrobaten und Gaukler, die, kaum auf festem Boden, das Wohlwollen der Bewohner dieses unbekannten Landes gewinnen wollten, indem sie ihnen eine Vorstellung gaben. Die Chinesen sperrten Mund und Augen auf, als sie diese Fremden mit den langen Nasen sahen, die Feuer spien, ihre Gliedmaßen verknoteten, Frösche in Schlangen verwandelten usw.
Mit Fug und Recht schlossen sie daraus, daß der Westen mit Clowns und Feuerschluckern bevölkert war. Und es vergingen Jahrhunderte, bis sich die Gelegenheit bot, diesen Irrtum aufzuklären.
Edmond Wells
Enzyklopädie des absoluten und relativen Wissens
Endlich standen sie vor Jonathans Mauer. Wie bildet man vier Dreiecke aus sechs Streichhölzern? Daniel versäumte nicht, ein Foto zu schießen. Augusta tippte das Wort »Pyramide«, und die Mauer glitt langsam zur Seite. Augusta war stolz auf ihren Enkel.
Sie gingen hindurch, und bald darauf hörten sie, daß sich die Mauer wieder zurückschob. Jason beleuchtete die Wände; überall Felsen, aber nicht mehr derselbe wie vorhin. Vor der Mauer war er rot, jetzt gelb, schwefelgeädert.
Die Luft jedoch blieb erträglich. Sie glaubten sogar einen leichten Luftzug zu spüren. Hatte Professor Leduc recht? Mündete dieser Tunnel in den Wald von Fontainebleau?
Plötzlich stießen sie auf eine weitere Horde von Ratten, die viel aggressiver waren als die, denen sie zuvor begegnet waren. Jason verstand, was da vorging, hatte jedoch keine Zeit, es den anderen zu erklären: Sie mußten die Masken wieder aufsetzen und Gas versprühen. Jedesmal, wenn sich die Mauer öffnete, was sicher nicht oft vorgekommen war, wechselten Ratten auf Nahrungssuche aus der »roten« in die »gelbe Zone« über. Aber während die in der roten Zone noch einigermaßen zurechtkamen, hatten die anderen - die Auswanderer - nichts Nahrhaftes gefunden und begonnen, sich gegenseitig aufzufressen.
Und Jason und seine Freunde waren nun an die Überlebenden geraten, mit anderen Worten, an die Wildesten. Bei ihnen erwies sich das Tränengas glattweg als unwirksam. Sie griffen an! Sie sprangen hoch, versuchten, sich an die Arme zu krallen.
Daniel, am Rande der Hysterie, schoß eine grelle Blitzlichtsalve ab, doch diese grausigen Biester wogen mehrere Kilo und hatten keine Angst vor Menschen. Die ersten Verletzungen waren zu sehen. Jason zog sein Fahrtenmesser, erstach zwei Ratten und warf sie den anderen zum Fraß vor. Augusta feuerte mehrere Schüsse mit einem kleinen Revolver ab ... Auf diese Weise gelang es ihnen, Reißaus zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig!
als ich klein war: Als ich klein war, blieb ich stundenlang auf der Erde liegen und betrachtete die Ameisenhaufen. Das erschien mir »wirklicher« als das Fernsehen.
Zu den Rätseln, die mir ein Ameisenhaufen bot, gehörte jenes: Warum brachten sie nach den Verwüstungen, die ich anrichtete, manche der Verletzten zurück und ließen die anderen sterben? Alle waren von der gleichen Größe ... Nach welchen Auswahlkriterien wurde ein Individuum für interessant erachtet und ein anderes für belanglos?