Aber am meisten überrascht sie das letzte Pheromon der Königin.
Wenn ihre Abgesandten binnen vierzehn Tagen nicht zurück seien, beteuert sie, werde sie Bel-o-kan den Krieg erklären. Sie glaubt, daß ihre Geburtsstadt dieser Welt nicht mehr angepaßt ist. Die bloße Existenz der Kriegerinnen mit dem Felsenduft zeigt, daß Bel-o-kan eine Stadt ist, die sich der Wirklichkeit nicht mehr offen stellt. Eine fröstelnde Stadt, wie eine Schnecke. Einst war sie revolutionär, jetzt ist sie überholt. Sie muß abgelöst werden. Chli-pu-ni ist der Ansicht, daß sich die Föderation rasch entwickeln wird, wenn sie sich an die Spitze setzt. Gemeinsam mit den anderen vierundsechzig Städten müßten ihre Initiativen beträchtliche Ergebnisse zeitigen. Sie gedenkt bereits, die Wasserläufe zu erobern und eine fliegende Legion aufzustellen, die sich der Nashornkäfer bedient.
Nr. 103 683 zögert. Sie hatte vor. Bel-o-kan aufzusuchen und dort über ihre Odyssee zu berichten, aber Chli-pu-ni bittet sie, auf ihr Vorhaben zu verzichten.
Bel-o-kan hat eine Armee aufgestellt, »um nichts zu erfahren«. Zwinge die Stadt nicht dazu, etwas zu erkennen, was sie nicht erkennen will.
Das obere Ende der Wendeltreppe ist durch einige Stufen aus Aluminium verlängert. Die stammen bestimmt nicht aus der Renaissance! Die drei gelangen zu einer weißen Tür. Wieder
Und ich kam zu einer Mauer, die aus Kristallen bestand und von Feuerzungen umgeben war. Und das machte mir langsam angst.
Dann schritt ich durch die Feuerzungen bis zu einem großen Haus, das aus Kristallen errichtet war.
Und die Mauern des Hauses waren wie eine Flut von schachbrettartigen Kristallen, und seine Fundamente waren aus Kristall.
Seine Decke war wie die Bahn der Sterne.
Und zwischen ihnen waren Feuersymbole.
Und der Himmel war klar wie Wasser. (Enoch, I)
Sie stoßen die Tür auf, steigen einen sehr steilen Gang hinauf. Plötzlich gibt der Boden unter ihren Füßen nach - eine Falltür! Ihr Fall ist lang, so lang ... daß sie die Angst verlieren, sie haben das Gefühl zu fliegen. Sie fliegen!
Ihr Sturz wird von einem Trapezkünstlernetz aufgefangen, ein riesiges Netz mit engen Maschen. Auf allen vieren tasten sie durch die Dunkelheit. Jason Bragel ortet eine weitere Tür -diesmal jedoch nicht mit einem Kode, sondern mit einer schlichten Klinke. Leise ruft er seine Begleiter. Dann öffnet er.
greis: In Afrika betrauert man eher den Tod eines alten Mannes als den eines Neugeborenen. Der Greis bedeutete eine Menge von Erfahrungen, von denen der Rest des Stammes profitieren konnte, während das Neugeborene, das nicht gelebt hat, sich seines Todes nicht einmal bewußt ist.
In Europa trauert man um das Neugeborene, weil man sich sagt, daß es bestimmt wunderbare Dinge hätte vollbringen können, wenn es gelebt
hätte. Dem Tod eines Greises hingegen schenkt man wenig Aufmerksamkeit. Er hat auf jeden Fall sein Leben gelebt.
Edmond Wells
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Der Ort ist in ein bläuliches Licht getaucht.
Eine Kirche, eine Art Tempel ohne ein einziges Bild, ohne eine einzige Statue. Augusta muß an die Worte von Professor Leduc denken. Bestimmt haben sich die Protestanten früher hierher zurückgezogen, wenn die Verfolgungen zu gnadenlos wurden.
Der Saal unter dem steinernen Gewölbe ist quadratisch, geräumig, wunderschön. In der Mitte steht als einziges dekoratives Element eine alte Orgel. Davor ein Notenpult, auf dem ein dicker Aktendeckel liegt.
Die Wände sind voller Inschriften, von denen viele, selbst für den Blick eines Laien, eher der Schwarzen als der Weißen Magie nahezustehen scheinen. Leduc hatte recht, die Sekten müssen in diesem unterirdischen Schlupfwinkel einander abgelöst haben. Und früher dürfte es hier keine verschiebbare Wand, keinen Trichter und keine Falltür mit Netz gegeben haben.
Sie hören ein Plätschern wie von fließendem Wasser. Die Ursache sehen sie nicht sofort. Das bläuliche Licht kommt von rechts. Dort befindet sich eine Art Laboratorium mit Computern und Reagenzgläsern. Sämtliche Geräte sind eingeschaltet, und die Bildschirme der Computer erzeugen diesen bläulichen Schimmer, der den Tempel erhellt.
»Das macht euch stutzig, was?«
Sie schauen sich an. Keiner von ihnen hat ein Wort gesagt. Oben an der Decke leuchtet eine Lampe auf.
Sie drehen sich um. Jonathan Wells kommt in einem weißen Bademantel auf sie zu. Er ist durch eine Tür hinter dem Laboratorium in den Tempel eingetreten.
»Guten Tag. Großmutter Augusta! Guten Tag, Jason Bragel! Guten Tag. Daniel Rosenfeld!«
Keiner Antwort fähig, sperren die drei Augen und Ohren auf. Er ist also nicht tot! Er hat hier unten gelebt! Wie kann man hier leben? Sie wissen nicht, was sie zuerst fragen sollen ...
»Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft!«
»Wo sind wir?«
»Ihr seid hier in einer zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Androuet Du Cerceau gebauten protestantischen Kirche. Androuet ist durch den Bau des Hotel Sully in der Rue Saint-Antoine in Paris berühmt geworden, aber ich finde, diese unterirdische Kirche ist sein Meisterwerk. Kilometerlange, in den Stein gehauene Tunnel. Ihr habt bemerkt, auf der ganzen Strecke ist genügend Luft zum Atmen. Er muß Luftschächte angebracht haben, oder er hat es verstanden, die Luftansammlungen in den natürlichen Stollen zu nutzen. Wir sind nicht einmal in der Lage, zu verstehen, wie er das angestellt hat. Sicher sind euch auch die Bäche aufgefallen, die einige Abschnitte des Tunnels durchlaufen. Seht mal, einer davon kommt genau hier heraus.«
Er deutet auf die Ursache des unentwegten Plätscherns, einen mit Skulpturen verzierten Springbrunnen hinter der Orgel.
»Im Laufe der Zeit haben sich viele Leute hierher zurückgezogen, um den Frieden und die Ausgeglichenheit für so manche Dinge zu finden, die ... sagen wir: viel Aufmerksamkeit erforderten. Onkel Edmond hat in einem alten obskuren Schriftstück von der Existenz dieses Schlupfwinkels erfahren, und genau hier hat er gearbeitet.«
Jonathan tritt noch näher; eine seltene Sanftmut und Unbekümmertheit gehen von ihm aus. Augusta ist völlig baff.
»Aber ihr seid sicher erschöpft. Folgt mir.«
Er stößt die Tür auf, durch die er erschienen ist, und führt sie in einen Raum, in dem mehrere Liegesofas kreisförmig angeordnet sind.
»Lucie«, ruft er, »wir haben Besuch!«
»Lucie? Ist sie auch hier?« ruft Augusta erfreut aus.
»Hmm, wie viele seid ihr denn hier?« fragt Daniel.
»Bislang waren wir achtzehn: Lucie, Nicolas, die acht Feuerwehrleute, der Inspektor, die fünf Gendarmen, der Kommissar und ich. Kurzum, sämtliche Leute, die sich die Mühe gemacht haben, hinabzusteigen. Ihr werdet sie bald sehen. Entschuldigt, aber für unsere Gemeinschaft ist es jetzt vier Uhr morgens, und da schlafen alle. Ich bin der einzige, der von eurer Ankunft geweckt wurde. Was habt ihr nur für einen Radau in den Gängen veranstaltet, sagt mal ...«
Lucie erscheint, ebenfalls in einen Bademantel gehüllt.
»Guten Tag!«
Sie tritt lächelnd näher und küßt sie alle drei. Hinter ihr schieben Gestalten im Pyjama den Kopf durch die Öffnung einer Tür, um die »Neuankömmlinge« zu betrachten.
Jonathan holt Gläser und eine große Karaffe, die er mit dem Wasser aus dem Brunnen füllt.
»Wir lassen euch einen Moment allein, um uns anzuziehen und alles vorzubereiten. Wir empfangen nämlich alle Neuen mit einer kleinen Feier, aber daß ihr mitten in der Nacht auftauchen würdet, wußten wir nicht ... Bis gleich!«