Augusta, Jason und Daniel rühren sich nicht. Das Ganze ist einfach unglaublich. Daniel kneift sich plötzlich in den Unterarm. Augusta und Jason finden diese Idee ausgezeichnet und machen es ihm nach. Aber nein, die Wirklichkeit übertrifft den Traum manchmal um Längen. Köstlich verwirrt, schauen sie sich an und beginnen zu lächeln.
Einige Minuten später sind alle versammelt. Sie sitzen auf den Sofas. Augusta, Jason und Daniel haben inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen und sind jetzt vor allem neugierig.
»Ihr habt vorhin von Luftschächten gesprochen. Sind wir hier tief unter der Erde?«
»Nein, höchstens drei, vier Meter.«
»Dann können wir also von hier aus wieder ins Freie gelangen?«
»Nein, nein. Jean Androuet Du Cerceau hat seine Kirche genau unter einem flachen Felsen von absoluter Härte gebaut -unter einem Granitblock!«
»Der jedoch ein Loch von der Größe eines Arms hat«, ergänzt Lucie. »Diese Öffnung diente ebenfalls zur Ventilation.«
»Diente?«
»Ja, jetzt wird dieser Durchbruch zu anderen Zwecken genutzt. Das ist nicht weiter schlimm, es gibt andere, seitliche Luftschächte. Ihr merkt, man erstickt hier keineswegs ...«
»Man kommt also nicht heraus?«
»Nein. Jedenfalls nicht nach oben.«
Jason wirkt ziemlich besorgt.
»Aber Jonathan, weshalb hast du dann diese Mauer, diese Reuse, diese Falltür, dieses Netz angebracht . ? Wir sitzen hier ja vollkommen fest!«
»Eben, das ist so beabsichtigt. Das hat mich einiges an Zeit und Aufwand gekostet. Aber es war unumgänglich. Als ich zum erstenmal in diese Kirche kam, habe ich dieses Notenpult entdeckt. Außer der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens fand ich darauf einen Brief meines Onkels an mich. Hier ist er.«
Lieber Jonathan,
Du hast dich trotz meiner Warnungen entschlossen, in den Keller hinabzusteigen. Du bist also mutiger, als ich dachte. Bravo. Die Aussicht, daß du es schaffen würdest, war meines Erachtens nicht größer als eins zu fünf. Deine Mutter hat mir von deiner krankhaften Angst vor der Dunkelheit erzählt.
Wenn du jetzt hier bist, dann heißt das, daß es dir (unter anderem) gelungen ist, dieses Hindernis zu überwinden, und daß deine Willenskraft stärker geworden ist. Wir werden sie brauchen.
Du findest in diesem Aktendeckel die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, die an dem Tag, da ich diese Worte schreibe, genau 288 Kapital umfaßt, in denen von meiner Arbeit die Rede ist. Ich möchte, daß du sie fortführst, es lohnt sich.
Den Schwerpunkt dieser Forschungen bildet die Ameisenzivilisation. Nun, du wirst es lesen und wirst es verstehen. Aber vorab habe ich eine sehr wichtige Bitte an dich. Daß du jetzt diesen Brief liest, bedeutet auch, daß ich keine Zeit hatte. Vorrichtungen anzubringen, um mein Geheimnis zu schützen (wäre ich dazu gekommen, hättest du einen anderen Brief vorgefunden).
Ich bitte dich, sie zu konstruieren. Ich habe bereits ein paar Skizzen angefertigt, aber ich denke, du wirst diese Anregungen aufgrund deiner eigenen Kenntnisse verbessern können. Das Ziel dieser Vorrichtungen ist einfach. Es geht darum, daß man einerseits nicht so leicht in meine Höhle vordringen kann, andererseits jedoch diejenigen, denen es gelingt, nie wieder zurückkehren, um zu erzählen, was sie entdeckt haben.
Ich hoffe, du bringst das zustande, und ich hoffe auch, daß dir dieser Ort den gleichen »Reichtum« verschaffen wird, den er mir gegeben hat.
Edmond
»Jonathan hat sich darauf eingelassen«, erklärt Lucie. »Er hat sämtliche Fallen gebaut, die Edmond geplant hat, und Sie haben feststellen können, daß sie zuschnappen.«
»Und die Leichen? Sind das Leute, die sich von den Ratten haben erwischen lassen?«
»Nein.« Jonathan lächelt. »Ich kann euch versichern, daß es in diesen unterirdischen Gängen keine Toten mehr gegeben hat, seit sich Edmond hier niedergelassen hat. Die Leichen, die ihr gesehen habt, liegen mindestens fünfzig Jahre dort. Wer weiß, welche Dramen sich früher hier abgespielt haben. Irgendeine Sekte ...«
»Dann kommen wir hier also nie mehr raus?« erkundigte sich Jason beunruhigt.
»Nie mehr.«
»Man müßte das Loch oberhalb des Netzes erreichen (in acht Meter Höhe!), die Reuse in umgekehrter Richtung passieren, was unmöglich ist (und irgendwelches Gerät, um sie einzuschmelzen, haben wir nicht), zudem die Mauer überwinden, wobei Jonathan auf dieser Seite keinerlei Vorrichtung angebracht hat, sie zu öffnen ...«
»Von den Ratten ganz zu schweigen .«
»Wie hast du es geschafft, da unten Ratten anzusiedeln?« fragte Daniel.
»Das war Edmonds Idee. Er hat ein besonders dickes und aggressives Paar rattus norvegicus in einem Felsspalt ausgesetzt und einen großen Nahrungsvorrat hinterlassen. Er wußte, daß das eine Zeitbombe war. Ratten vermehren sich, wenn sie wohlgenährt sind, mit rasender Geschwindigkeit. Sechs Junge pro Monat, die ihrerseits nach zwei Wochen zeugungsfähig sind ... Um sich vor ihnen zu schützen, benutzte er ein Spray mit einem aggressiven Pheromon, das diese Nager abschreckt.«
»Dann haben also die Ratten Ouarzazate getötet?« fragte Augusta.
»Ja, leider. Und Jonathan hatte nicht vorausgesehen, daß die Ratten, die auf die andere Seite der >Pyramiden-Mauer< gelangen, noch wilder wurden.«
»Ein Kollege von uns, der schon immer eine fürchterliche Angst vor Ratten hatte, ist völlig ausgerastet, als ihm eines dieser dicken Viecher ins Gesicht sprang und ihm ein Stück von der Nase abgebissen hat. Er ist auf der Stelle zurückgelaufen, noch ehe die Mauer wieder zuging. Haben Sie oben etwas von ihm gehört?«
»Ich habe munkeln hören, er sei verrückt geworden und sitze inzwischen in einer geschlossenen Anstalt«, antwortete Augusta, »aber das sind Gerüchte.«
Sie steht auf, um sich ein Glas Wasser zu holen, bemerkt jedoch, daß der Tisch voller Ameisen ist. Sie stößt einen Schrei aus und fegt sie unwillkürlich mit dem Handrücken zur Seite. Jonathan springt auf und packt sie am Handgelenk. Sein harter Blick paßt nicht zu der ausgeprägten Heiterkeit, die bislang in der Gruppe geherrscht hat; und das nervöse Zucken seines Mundes, das geheilt schien, ist wieder da.
»Mach das ... nie ... wieder!«
Belo-kiu-kiuni ist allein in ihrer Loge. Geistesabwesend verschlingt sie einige ihrer Eier, ihr Lieblingsessen.
Sie weiß, daß diese sogenannte Nr. 801 keine Botschafterin der neuen Stadt ist. Nr. 56, oder auch Königin Chli-pu-ni, wie sie sich jetzt nennt, hat sie ausgesandt, um weitere Nachforschungen anzustellen.
Sie braucht sich keine Sorgen zu machen, ihre Kriegerinnen mit dem Felsenduft dürften problemlos mit ihr fertigwerden. Die Hinkende vor allem ist ungemein begabt darin, andere von der Last des Lebens zu erlösen - eine wahre Künstlerin!
Dennoch, das ist schon das vierte Mal, daß ihr Chli-pu-ni Abgesandte schickt, die ein wenig neugierig sind. Die ersten wurden getötet, noch bevor sie den Saal mit der Droge fanden. Die zweite und die dritte Gruppe sind den Halluzinationen hervorrufenden Substanzen des vergifteten Koleopters zum Opfer gefallen.
Diese Nr. 801 nun ist offenbar unmittelbar nach ihrer Unterredung mit ihr, der Königin, hinabgestiegen. Wahrhaftig, sie haben es immer eiliger, zu sterben! Andererseits dringen sie mit jedem Mal tiefer in die Stadt ein. Und wenn eine von ihnen trotz allem den Weg findet? Wenn sie das Geheimnis entdeckt? Und womöglich den Duft davon verbreitet .?
Eine der Kriegerinnen mit dem Felsengeruch stürmt hinein. Die Spionin hat es geschafft, an der Droge vorbeizukommen! Sie ist unten!
Nun denn, das mußte ja so kommen .
666 ist der Name des Tieres (Die Offenbarung des Johannes). Aber wer ist für wen das Tier?