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Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

Jonathan läßt das Handgelenk seiner Großmutter los. Damit keine Verlegenheit aufkommt, schlägt Daniel ein anderes Thema an.

»Und dieses Labor am Eingang, wozu dient das?«

»Das ist der Stein des Weisen! All unsere Anstrengungen dienen nur dem einen Zieclass="underline" mit ihnen in Verbindung zu stehen!«

»Mit ihnen .? Mit wem?«

»Mit ihnen: den Ameisen. Folgt mir.«

Sie verlassen den Raum in Richtung Laboratorium. Jonathan, der sich in seiner Rolle als Nachfolger Edmonds sichtlich wohl fühlt, nimmt ein mit Ameisen gefülltes Reagenzglas vom Labortisch und hält es in Augenhöhe.

»Schaut her, das sind Geschöpfe. Und zwar vollwertige Geschöpfe, keine kleinen, unbedeutenden Insekten. Und das, das hat mein Onkel sofort begriffen ... Die Ameisen bilden die zweite große Zivilisation auf der Erde. Und Edmond ist eine Art Kolumbus, der zwischen unseren Zehen einen anderen Kontinent entdeckt hat. Er hat als erster erfaßt, daß man, bevor man außerirdische Wesen in den letzten Winkeln des Weltalls sucht, erst einmal Kontakt mit den ... innerirdischen aufnehmen sollte.«

Niemand sagt einen Ton. Augusta erinnert sich. Eines Tages. Jonathan war noch gar nicht auf der Welt, ist sie durch den Wald von Fontainebleau spaziert, und plötzlich hat sie gespürt, wie unter ihren Sohlen Scharen von winzig kleinen Tierchen knackten. Sie war auf eine Gruppe von Ameisen getreten. Sie hatte sich hinabgebeugt. Sie waren allesamt tot, aber eines blieb rätselhaft. Sie hatten sich so ausgerichtet, daß sie einen Pfeil mit nach innen gekehrter Spitze bildeten ...

Jonathan hat das Reagenzglas abgestellt. Er nimmt seine Rede wieder auf: »Nach seiner Rückkehr aus Afrika hat Edmond dieses Gebäude, den Keller, schließlich die Kirche entdeckt. Das war der ideale Ort, hier hat er sein Labor eingerichtet ... Der erste Schritt seiner Forschungen bestand darin, die Pheromonensprache der Ameisen zu entschlüsseln. Diese Maschine hier ist ein Massenspektrometer. Wie der Name sagt, zeigt es ein Spektrum einer Masse, es zerlegt jede Materie, indem es die Atome aufzählt, aus denen sie zusammengesetzt ist ... Ich habe die Aufzeichnungen meines Onkels gelesen. Am Anfang setzte er seine Versuchstierchen unter eine Glasglocke, die über ein Saugrohr mit dem Massenspektrometer verbunden war. Dann brachte er eine Ameise mit einem Stück Apfel in Berührung, diese traf eine andere Ameise und teilte ihr unweigerlich mit >Da drüben gibt es Apfelc. Nun ja, das war die Ausgangshypothese. Er saugte die ausgeschiedenen Pheromone an, entschlüsselte sie und gelangte zu einer chemischen Formel ... >Im Norden gibt es Apfel< heißt zum Beispieclass="underline"    >Methyl4 Methylpyrrol2 Carboxylatc. Die Mengen sind verschwindend gering, in der Größenordnung von 2 bis 3 Pikogramm (10-12 g) pro Satz ... Aber das reichte. Auf diese Weise wußte er >Apfel< und >im Norden< zu sagen. Er setzte das Experiment mit einer Vielzahl von Gegenständen, Lebensmitteln oder Situationen fort. So erhielt er ein richtiges Wörterbuch der Ameisensprache. Nachdem er zunächst nur den Namen von gut hundert Früchten, rund dreißig Blumen und einem Dutzend Richtungsangaben erkannt hatte, schaffte er es schließlich, die Pheromone für Alarm, Freude, Vorschlag, Beschreibung und so weiter herauszufinden, und er ist sogar fortpflanzungsfähigen Ameisen begegnet, die ihm beigebracht haben, wie man die >abstrakten Emotionen< des siebten Antennensegments ausdrückt ... Ihnen nur >zuzuhören< reichte jedoch nicht. Er wollte mit ihnen reden, einen richtigen Dialog aufnehmen.«

»Sagenhaft!« entfuhr es Professor Daniel Rosenfeld.

»Er hat angefangen, für jede chemische Formel eine bestimmte akustische Entsprechung in Form von Silben zu finden. Methyl4 Methylpyrrol2 Carboxylat hieß beispielsweise MT4MTP2CX, dann Miticamitipidicixu. Schließlich hat er in den Speicher des Computers eingegeben: Miticamitipi = Apfel; und: dicixu = befindet sich im Norden. Der Computer übersetzt in beide Richtungen. Wenn er >dicixu< erkennt, übersetzt er es zu >befindet sich im Norden<. Und wenn man >befindet sich im Norden< eintippt, formt er diesen Satz in >dicixu< um, was einen Ausstoß von Carbolyxat durch eine Art Sprechgerät auslöst ...«

»Ein Sprechgerät?«

»Ja, dieser Apparat hier.«

Er deutete auf eine Art Vitrine, die sich aus Tausenden von kleinen Phiolen zusammensetzte, die jeweils in einem kleinen Röhrchen endeten, das wiederum an eine elektrische Pumpe angeschlossen war.

»Die in den Phiolen enthaltenen Atome werden von dieser Pumpe angesaugt, dann in diesen Apparat befördert, der sie sichtet und genau nach der von dem elektronischen Wörterbuch angegebenen Dosierung sortiert.«

»Sagenhaft«, wiederholt Daniel    Rosenfeld, »einfach sagenhaft. Ist es ihm wirklich gelungen, Kontakt aufzunehmen?«

»Hmm ... Ich glaube, da lese ich Ihnen am besten seine Aufzeichnungen in der Enzyklopädie vor.«

gesprächsfetzen: Auszug der ersten Unterhaltung mit einer formica ruf a vom Typ Kriegerin.

Mensch: Empfangen Sie mich?

Mensch: Ich sende, empfangen Sie mich?

Ameise: krrrnrrrkrrrkrrrnkrrr. Hilfe.

(Anm.: Die Dosierung wurde mehrfach geändert. Vor allem war der Ausstoß viel zu stark, er hat das Versuchsobjekt erstickt. Der Emissionsschalter muß auf 1 gestellt werden. Der Schalter für den Empfang hingegen muß auf 10 hochgedreht werden, damit kein Molekül verlorengeht.)

Mensch: Empfangen Sie mich?

Ameise: Bugu.

Mensch: Ich sende, empfangen Sie mich?

Ameise: Sgugnu. Hilfe. Ich bin eingeschlossen.

Auszug der dritten Unterhaltung.

(Anm.: Das Vokabular ist diesmal auf achtzig Wörter ausgedehnt worden. Der Ausstoß war immer noch zu stark. Neue Einstellung, der Knopf muß fast auf Null gestellt werden.)

Ameise: Was?

Mensch: Was sagen Sie?

Ameise: Ich verstehe nichts. Hilfe!

Mensch: Reden wir langsamer!

Ameise: Sie senden zu stark! Meine Antennen sind übersättigt. Hilfe! Ich bin eingeschlossen.

Mensch: Und jetzt, geht es so?

Ameise: Nein, wissen Sie denn nicht, wie man sich unterhält?

Mensch: Na ja ...

Ameise: Wer sind Sie?

Mensch: Ich bin ein großes Tier. Ich heiße ED-MOND.

Ameise: Was sagen Sie? Ich verstehe nichts. Hilfe! Zu Hilfe! Ich bin eingeschlossen .!

(Anm.: Fünf Sekunden nach diesem Dialog ist das Versuchsobjekt gestorben. War der Ausstoß immer noch zu stark? Hatte es Angst?)

Jonathan unterbricht seine Lektüre.

»Ihr seht, das ist gar nicht so einfach! Es reicht nicht. Vokabeln zu sammeln, um mit ihnen zu reden. Außerdem funktioniert die Ameisensprache nicht so wie unsere. Es werden nicht nur die eigentlichen Gesprächsemissionen wahrgenommen, sondern auch die Emissionen, die von den anderen elf Antennensegmenten ausgehen. Jene geben die Identität des Individuums an, seine Sorgen, seine Psyche . So etwas wie ein Gesamtbild der geistigen Verfassung, das für das interindividuelle Verständnis unerläßlich ist. Deshalb hat Edmond aufgeben müssen. Ich lese euch seine Notizen vor.