„Der plötzliche Umsturz eines Baumes ist das gefährlichste Begebniß in den Wäldern,“ sagte Marmaduke, „da man es nie voraussehen kann. Es kömmt vor, ohne daß ein Lüftchen geht, und ohne irgend eine erkennbare Ursache, gegen welche man auf der Hut seyn könnte.“
Der Grund eines solchen Umsturzes liegt nahe genug, Richter Temple,“ sagte der Sheriff. „Der Baum ist alt und in Folge der Kälte morsch geworden; und wenn dann der Schwerpunkt über die Basis hinausfällt, so muß er stürzen. Ich möchte wissen, ob es ein zwingenderes Argument gibt, als eine mathematische Gewißheit. Ich studirte Mathe — —“
„Ganz recht, Richard,“ unterbrach ihn Marmaduke; „Deine Begründung ist richtig, und wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, so wurde sie von mir selbst bei einer früheren Gelegenheit aufgestellt. Aber wie kann man sich gegen die Gefahr schützen? Kannst Du durch die Wälder gehen, um die Basen abzumessen und die Schwerpunkte der Eichen zu berechnen? Beantworte mir das, Freund Jones, und ich will Dir zugestehen, daß Du dem Land einen großen Dienst erwiesen hast.“
„Das soll ich Dir beantworten, Freund Temple?“ erwiederte Richard, „Ein Mann von Bildung kann Dir alles beantworten. Stürzt etwa ein anderer Baum in dieser Weise, als ein morscher?
Nimm Dich in Acht, der Wurzel eines mürben Baumes nahe zu kommen, und Du wirft sicher genug seyn.“
„Da dürften wir nur ganz aus den Wäldern wegbleiben,“ versetzte Marmaduke. „Aber zum Glücke räumen die Winde mit so gefährlichen Ruinen auf, wenn ihnen durch die Lichtungen der Zugang gebahnt wird, Ein Sturz wie der gegenwärtige gehört zu den Seltenheiten.“
Luise hatte sich inzwischen so weit erholt, daß die Gesellschaft einen schärferen Schritt einhalten konnte. Aber lange ehe sie die Heimath erreichten, wurden sie von dem Sturm überholt, und als sie an der Thüre des Herrenhauses abstiegen, waren die schwarzen Federn auf Miß Temples Hut von einer Masse Schnees geknickt und die Röcke der Herren mit dem gleichen Material eingepudert.
Während Edwards Luisen vom Pferde half, ergriff das warmherzige Mädchen seine Hand mit Feuer und flüsterte:
„Jetzt, Herr Edwards, verdanken Euch Vater und Tochter das Leben.“
Es folgte bald ein heftiger Nordwest-Orkan, und noch ehe die Sonne untergieng, war jede Spur des Frühlings wieder verwischt. Der See, die Berge, der Wald und die Felder lagen abermals unter einer blendenden Schneehülle vergraben.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Männer, Knaben, Mädchen
Fliehn aus dem öden Dorf; und wilde Schaaren
Ziehn durch das Thal, gejagt von süßem Wahnsinn.
Somerville.
Von nun an bis zum Schlusse des Aprils bildete die Witterung eine ununterbrochene Reihe rascher Wechsel. Den einen Tag schienen sich die sanften Lüfte des Frühlings durch das Thal zu stehlen und in Vereinigung mit einer belebenden Sonne die schlummernden Kräfte der Pflanzenwelt zu wecken, während am andern wieder rauhe Nordstürme über den See wegfegten und jede Spur vernichteten, welche ihre sanften Gegner zurückgelassen hatten. Demungeachtet aber verschwand der Schnee nach und nach, und in allen Richtungen sah man grüne Weizenfelder mit ihren dunkeln verkohlten Stümpfen, welche erst im vergangenen Jahre noch einigen der stolzesten Bäume des Waldes zur Unterlage gedient hatten. Wo immer sich ein Pflug anwenden ließ, war dieses nützliche Werkzeug in Bewegung, und der Rauch der Zuckersiedereien erhob sich nicht länger über den Ahorngehölzen. Der See hatte den blanken Schmuck eines Eisfeldes verloren, denn obgleich noch eine dunkle, düstere Rinde seine Wasser verbarg, so konnte, da keine Strömungen vorhanden waren, kein Eisgang eintreten, und das erstarrte Element erhielt sich noch lange in jenem porösen Zustande , der kaum Kraft genug besaß, den Zusammenhang seiner Theile zu erhalten. Man sah große Schaaren wilder Gänse über den Landstrich hinziehen, die eine Zeitlang ob dem Spiegel des Sees schwebten, augenscheinlich, um einen Ruheplatz zu suchen; und wenn sie sich dann von der kalten Decke abgestoßen fanden, so flogen sie gen Norden, die Luft mit schrillem Geschrei erfüllend, als wollten sie ihren Klagen über das langsame Wirken der Natur Luft machen.
Eine Woche lang blieb diese schwarze Hülle des Otsego in dem ungestörten Besitz zweier Adler, die sich auf dem Mittelpunkt desselben niedergelassen hatten und von da ihr unbestrittenes Territorium betrachteten. Während der Anwesenheit dieser Luftmonarchen vermieden die Zugvögelschwärme den See und bogen in die Berge ein, augenscheinlich den Schutz der Wälder aufsuchend, während die weißen, kahlen Köpfe der nunmehrigen Bewohner des Sees mit einem Blicke der Verachtung in die Höhe schauten. Aber die Zeit kam, wo auch diese Könige der Vögel aus ihrem Besitz vertrieben werden sollten. Eine Oeffnung an der untern Seite der Wasserfläche wo die Strömung des Flusses, selbst zu der kältesten Jahreszeit, die Bildung von Eis verhindert hatte, griff allmählig um sich, und die frischen Südwinde, die ungehindert das Thal durchstrichen, übten ihre Wirkung. Leichte Wogen begannen sich über dem Rande des Eisfeldes zu kräuseln und bildeten einen Saum von Cristallen, der sich allmählig weiter gegen Norden zurück zog. Schritt für Schritt mehrte sich die Macht der Winde und der Wellen, so daß es den letztern nach einem Kampfe von einigen Stunden gelang, das ganze Feld in Bewegung zu setzen, und nun verschwand es vor den Augen mit einer Schnelligkeit, die ebenso zauberartig war, als der veränderte Anblick der ganzen Landschaft, welche durch diese Austreibung der zögernden Winterreste veranlaßt wurde. Als die letzte Schichte des bewegten Eises in der Entfernung entschwand, erhoben sich die Adler mit weiten Schwingen bis über die Wolken, während die Wellen ihre kleinen Schneekappen in die Luft stießen, als jubelten sie über ihre Befreiung von einer fünfmonatlichen Knechtschaft.
Am folgenden Morgen wurde Elisabeth durch die erfreulichen Töne der Hausschwalben, die sich zwitschernd um die kleinen Nester vor ihren Fenstern herum neckten, und durch die Rufe Richards geweckt, die ebenso ermuthigend waren, als die eben genannten Merkmale einer eintretenden Frühlingswitterung.
„Aufgewacht! aufgewacht! meine schönen Damen! die Möven schweben bereits über dem See, und der ganze Himmel wimmelt von Tauben. Ihr könnt Euch eine ganze Stunde umsehen, ehe Ihr ein Loch findet, das Einem einen Blick nach der Sonne gestattet. Aufgewacht! aufgewacht! ihr Siebenschläferinnen! Benjamin hat schon die Munition hergerichtet, und wir erwarten nur unser Frühstück um in den Bergen eine Taubenjagd anzustellen.“
Diesem muntern Aufruf ließ sich nicht widerstehen, und in wenigen Minuten zeigten sich Miß Temple und ihre Freundin im Gesellschaftszimmer. Die Thüren des Gemaches waren offen, und die milde, balsamische Luft eines heiteren Frühlingsmorgens durchfächelte den Raum, wo die unablässige Sorgfalt des Majordomo so lange eine künstliche Wärme unterhalten hatte. Die in Jagdkleidern gehüllten Herren harrten ungeduldig des Morgenimbißes, und Herr Jones, der alle Augenblicke nach der unterenThüre gieng, rief:
„Sieh, Bäschen Elisabeth! Sieh. 'Duke! Die Taubenschläge des Südens haben sich geöffnet. Die Schaaren werden mit jedem Augenblicke dichter. Hier ist ein Schwarm, von dem das Auge kein Ende absehen kann — Mundvorrath genug; um die Armee eines Xerxes für einen Monat verproviantiren zu können, und hinreichend Federn, um die Betten des ganzen Bezirks zu füllen. Xerxes war nämlich ein griechischer König, Herr Edwards, — nein, er war ein Türke oder ein Perser, der Griechenland erobern wollte, gerade in derselben Weise, wie diese gefiederten kleinen Schelme über unsere Weizenfelder herfallen. Beeile Dich, 'Beß, ich sehne mich darnach, ein wenig unter sie zu pfeffern.“