»Ja?«
»Alex, sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen.« Margots Stimme klang angsterfüllt.
»Na, vielleicht... «
»Bitte hör zu. Ich bin jetzt in Forum East. Ich bin sofort hingefahren, als ich hörte, daß sie nicht in der Bank war und sich auch bei ihr zu Hause niemand am Telefon meldete. Ich habe inzwischen mit etlichen der Hausbewohner gesprochen. Zwei von ihnen sagen, daß sie die Wohnung heute morgen zur üblichen Zeit mit ihrer kleinen Tochter Estela verlassen hat. Juanita bringt die Kleine auf dem Weg zur Arbeit immer in den Kindergarten. Ich habe festgestellt, welcher Kindergarten das ist, und ich habe da angerufen. Estela ist nicht da. Weder sie noch ihre Mutter haben sich heute morgen da sehen lassen.«
Eine Pause. Dann fragte Margots Stimme: »Alex, hörst du noch?«
»Ja, ich höre.«
»Danach habe ich noch einmal die Bank angerufen und dieses Mal mit Edwina gesprochen. Sie hat persönlich nachgesehen. Nicht nur, daß Juanita nicht aufgetaucht ist, sie hat auch nicht angerufen, und das ist nicht ihre Art. Deshalb mache ich mir Sorgen. Ich bin überzeugt, es ist etwas Schlimmes passiert.«
»Hast du bestimmte Vermutungen?«
»Ja«, sagte Margot. »Dieselben wie du.«
»Warte«, sagte er zu ihr. »Nolan ist bei mir.«
Wainwright hatte sich vorgebeugt und zugehört. Jetzt richtete er sich auf und sagte ruhig: »Mrs. Nünez ist entführt worden. Es gibt keinen Zweifel.«
»Von wem?«
»Von jemand aus der Doppelten Sieben. Wahrscheinlich wissen sie auch über Eastin Bescheid.«
»Glauben Sie, daß man sie in den Club verschleppt hat?«
»Nein. Das würden sie auf keinen Fall tun. Sie ist woanders.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wo?«
»Nein.«
»Und wer sie entführt hat, hat auch das Kind?«
»Ich fürchte, ja.« Qual sprach aus Wainwrights Blick. »Es tut mir leid, Alex.«
»Sie haben uns das eingebrockt«, sagte Alex brutal. »Jetzt holen Sie, verdammt noch mal, Juanita und das Kind da wieder raus!«
Wainwright konzentrierte sich, dachte beim Sprechen angestrengt nach. »Zuerst müssen wir prüfen, ob es eine Chance gibt, Eastin zu warnen. Wenn wir zu ihm durchkommen können, wenn wir ihn herauskriegen, dann könnte er etwas wissen, was uns zu dem Mädchen führt.« Er hatte ein kleines schwarzes Notizbuch aufgeschlagen und griff schon nach einem anderen Telefonhörer.
20
Alles spielte sich so schnell ab und kam so völlig unerwartet, daß Wagentüren zugeschlagen wurden und die große schwarze Limousine anfuhr, bevor sie überhaupt eine Chance hatte aufzuschreien. Instinktiv wußte Juanita, daß es jetzt zu spät war, aber sie schrie trotzdem - »Hilfe! Hilfe!« -, bis eine Faust wütend in ihr Gesicht geschlagen wurde und sich dann eine behandschuhte Hand fest auf ihren Mund preßte. Aber auch dann kämpfte Juanita, die neben sich Estelas entsetzten Aufschrei hörte, verzweifelt weiter, bis die Faust ein zweites Mal wild zuschlug und ihr alles vor den Augen verschwamm und alle Geräusche weit von ihr zurückwichen.
Der Tag - ein klarer, frischer Morgen Anfang November -hatte normal angefangen. Juanita und Estela waren rechtzeitig auf, um zu frühstücken und dann auf hrem kleinen tragbaren Schwarzweiß-Fernseher das NB C-Nachrichtenprogramm »Today« zu sehen. Danach machten sie sich eilig fertig, um wie üblich um 7.30 Uhr das Haus zu verlassen, so daß Juanita gerade genug Zeit hatte, um Estela in den Kindergarten zu bringen, bevor sie einen Bus in die Stadt und zur Bank nahm. Juanita liebte den frühen Morgen, und mit Estela zusammen zu sein, war jedesmal ein freudiger Tagesanfang.
Als sie aus dem Haus kamen, war Estela vorausgehüpft und hatte zurückgerufen: »Mammi, ich bin auf keinen Strich getreten«, und Juanita lächelte, denn die Kunst, auf keinen Strich und keinen Bruch in den Fußwegfliesen zu treten, war ein Spiel, das sie oft spielten. Etwa in diesem Augenblick nahm Juanita vage die unmittelbar voraus parkende Limousine mit den dunklen Fenstern wahr, deren hintere Tür zum Fußweg hin offenstand. Sie hatte genauer hingesehen, als Estela sich dem Wagen näherte und jemand von drinnen etwas zu ihr sagte. Estela ging näher heran. In dem Moment griff eine Hand hinaus und riß das kleine Mädchen in das Wageninnere. Sofort war Juanita zu der Wagentür gerannt. Dann kam von hinten eine Gestalt, die sie nicht gesehen hatte, dicht an sie heran und schob Juanita mit einem harten Stoß voran, so daß sie stolperte und vornüber in den Wagen stürzte, wobei sie sich schmerzhaft die Schienbeine schrammte. Bevor Juanita sich fassen konnte, hatte man sie zusammen mit Estela auf den Boden geworfen. Die Türen wurden zugeschlagen, der Wagen fuhr an.
Als ihr Kopf jetzt wieder klar wurde und das volle Bewußtsein zurückkehrte, hörte sie eine Stimme sagen: »Herr des Himmels, warum denn auch noch das gottverdammte Balg?«
»Wenn nich', hätte das Gör die ganze Straße zusammengeschrien, und irgendein Blödian hätte nach den Bullen gebrüllt. So sind wir verduftet ohne Ärger, schnell, kein Theater.«
Juanita bewegte sich. Stechende Schmerzen, ausgehend von der Stelle, wo man sie geschlagen hatte, schossen ihr durch den Kopf. Sie stöhnte.
»Hör zu, du Nutte!« sagte eine dritte Stimme. »Ein Mucks, und du kriegst wieder welche in die Fresse, aber feste. Und bild dir ja nicht ein, daß jemand von draußen reingucken kann. Das is' 'n Spezialglas, durch das kann man raus-, aber nicht reingucken.«
Juanita lag still, wehrte sich gegen aufsteigende Panik, zwang sich nachzudenken. Drei Männer saßen in dem Wagen, zwei auf dem Rücksitz über ihr, einer vorn. Was er über das Glas gesagt hatte, bestätigte ihren Eindruck vorhin von einem großen Auto mit dunklen Fenstern. Es stimmte also, was gesagt worden war: Es hatte keinen Sinn zu versuchen, Passanten aufmerksam zu machen. Wohin brachte man sie und Estela? Und warum? Juanita hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Antwort auf die zweite Frage etwas mit ihrer Verbindung zu Miles zu tun haben mußte. Wovor sie sich so gefürchtet hatte, das war jetzt eingetreten. Ihr war klar, daß sie sich in äußerster Gefahr befand. Aber, heilige Mutter Gottes! - Warum Estela? Die beiden lagen zusammengepreßt auf dem Boden des Wagens, Estelas Körper geschüttelt von verzweifeltem Schluchzen. Juanita bewegte sich, versuchte, sie zu umfassen und zu trösten.
»Da, amorcito! Sei tapfer, Kleines.«
»Schnauze!« kommandierte einer der Männer.
Eine andere Stimme - die Stimme des Fahrers, nahm sie an -sagte: »Knebelt sie, Binde vor die Augen.«
Juanita spürte Bewegungen, hörte, wie etwas, das Stoff sein mochte, zerrissen wurde. Sie flehte verzweifelt: »Bitte, nein! Ich will...« Die restlichen Worte gingen unter, während ein breiter Klebestreifen über ihren Mund gezogen und angepreßt wurde. Augenblicke später bedeckte ein dunkles Tuch ihre Augen; sie spürte, wie es fest angezogen wurde. Dann packte jemand ihre Hände und fesselte sie auf ihrem Rücken. Eine dünne Schnur schnitt in ihre Handgelenke. Der Boden des Wagens war staubig, und der Staub stieg Juanita in die Nase; unfähig, etwas zu sehen oder sich zu bewegen, unter dem breiten Pflaster auf ihrem Mund halb erstickt, blies sie verzweifelt, um ihre Nase freizubekommen und zu atmen. Aus anderen Bewegungen neben sich schloß sie, daß Estela genauso behandelt wurde. Verzweiflung überkam sie. Tränen des Zorns und der hilflosen Wut füllten ihre Augen. Verdammt sollst du sein, Wainwright! Verdammt sollst du sein, Miles! Wo steckt ihr jetzt?... Warum hatte sie sich darauf eingelassen... warum hatte sie ermöglicht... Oh, warum? Warum?... Mutter Gottes, bitte, hilf mir! Und wenn du mir nicht hilfst, rette Estela!