Als die Zeit verging, Schmerzen und Hilflosigkeit immer quälender wurden, begannen Juanitas Gedanken zu verschwimmen. Undeutlich wurde ihr bewußt, daß der Wagen langsam fuhr, hielt und wieder anfuhr, als sei er in dichtem Verkehr, dann kam eine lange Strecke mit hohem Tempo, dann ging es wieder langsam, Wenden, Kehren. Die Reise, wohin sie auch ging, erschien ihr endlos. Nach einer Stunde vielleicht -oder war es viel mehr, oder gar viel weniger? - spürte Juanita, wie mit aller Gewalt gebremst wurde. Einen Augenblick lang lief der Motor des Wagens lauter, wie in einem geschlossenen Raum. Dann erstarb er. Sie hörte ein elektrisches Summen, ein Poltern, als ob eine schwere Tür sich mechanisch schloß, dann einen Stoß, mit dem das Poltern aufhörte. Gleichzeitig klickten die Türen der Limousine auf, Scharniere ächzten, sie wurde grob auf die Beine gestellt und vorangestoßen. Juanita stolperte, schlug sich noch einmal schmerzhaft die Beine an einer Kante und wäre gestürzt, aber Hände packten sie. Eine der Stimmen, die sie schon gehört hatte, befahclass="underline" »Verdammt noch mal -marsch!«
Die Binde noch vor den Augen, bewegte sie sich ungeschickt. Ihre ganze Angst richtete sich auf Estela. Sie hörte Schritte -ihre eigenen, andere -, die von Beton widerhallten. Plötzlich fiel der Boden unter den Füßen ab, und sie stolperte, teils gehalten, teils Stufen hinab gestoßen. Am Fuß der Treppe hieß es wieder weitergehen. Plötzlich wurde sie nach hinten gestoßen, die Beine flogen in die Luft, bis ihr Sturz von einem harten, hölzernen Stuhl aufgefangen wurde. Dieselbe Stimme wie vorhin befahl irgend jemandem: »Runter mit der Binde und dem Streifen.«
Sie spürte die Bewegung von Händen und neuen Schmerz, als ihr das Pflaster rücksichtslos vom Mund heruntergerissen wurde. Die Binde lockerte sich, dann blinzelte Juanita, als die Finsternis einem hellen Licht wich, das ihr genau in die Augen schien.
Sie keuchte nur: »jPor Dios! Wo ist mein...«, als eine Faust sie traf.
»Spar dir das Singen auf«, sagte eine der Stimmen aus dem Auto. »Wenn wir's dir sagen, wirste auspacken, aber tüchtig.«
Es gab gewisse Dinge, die mochte Tony Bär Marino. Zum Beispiel gewisse sexuelle Spiele, bei denen Frauen zu unwürdigen Handlungen gezwungen waren, die ihm das Gefühl der Überlegenheit gaben. Was er noch mochte, das waren Hahnenkämpfe - je blutiger, desto besser. Außerdem genoß er es, wenn ihm detailliert und bilderreich beschrieben wurde, wie man auf seinen Befehl andere Gangster zusammengeschlagen oder hingerichtet hatte. Allerdings achtete er peinlich darauf, daß er selbst solchen Szenen fernblieb, damit man ihm seine Rolle dabei später auf keinen Fall nachweisen konnte. Eine weitere, allerdings mildere Vorliebe von ihm gehörte dem sogenannten Spiegelglas.
Tony Bär Marino liebte speziell präparierte Glasscheiben und Spiegel, die es ihm gestatteten zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, so sehr, daß er sie an allen möglichen Orten hatte einsetzen lassen - in seinen Autos, seinen Büros, seinen Stammkneipen, so in der Doppelten Sieben und in seinem entlegenen, bewachten Haus. In diesem Haus bestand eine ganze Wand eines Badezimmers mit Toilette, das für die weiblichen Gäste vorgesehen war, aus derartigem Glas. Von der Badezimmerseite aus war dieses Glas eine hübsche Spiegelwand, aber auf der anderen Seite befand sich ein kleiner geschlossener Raum, in dem Tony Bär zu sitzen pflegte und seine Zigarre und die persönlichen, privaten Dinge genoß, die ihm ahnungslos dargeboten wurden. Wegen dieser seiner Besessenheit war Spiegelglas auch in der Fälscherzentrale installiert worden, und obwohl er dort vorsichtshalber nur selten erschien, hatte es sich gelegentlich als nützlich erwiesen, wie auch jetzt wieder.
Das Glas war in eine halbhohe Wand eingelassen, die ihrer Wirkung nach eine Sichtblende war. Durch das Glas konnte er jetzt diese Juanita Nünez sehen, die mit ihm zugewandtem Gesicht an einen Stuhl gefesselt war. Ihr Gesicht war geschwollen und blutig, Haar und Kleidung waren zerzaust. Neben ihr war ihr Kind an einen anderen Stuhl festgebunden, und das Gesicht des kleinen Mädchens war kalkweiß. Als Marino vor ein paar Minuten erfahren hatte, daß man auch das Kind angeschleppt hatte, war er vor Wut in die Luft gegangen, nicht weil er Kinder mochte - er mochte sie nicht -, sondern weil er Schwierigkeiten witterte. Einen Erwachsenen konnte man - wenn nötig und praktisch ohne Risiko - ausschalten, aber ein Kind umzubringen, das war etwas anderes. Da konnten die eigenen Leute plötzlich das Bibbern kriegen, und wenn etwas davon durchsickerte, kam es womöglich zu Emotionen und damit zu Gefahren. Tony Bär hatte in der Sache schon eine Entscheidung getroffen; sie bezog sich auf das Augenverbinden auf dem Weg hierher. Außerdem konstatierte er zufrieden, daß von ihm selbst nichts zu sehen war.
Jetzt zündete er sich eine Zigarre an und sah zu.
Angelo, einer von Tony Bärs Leibwächtern, der das Einkassieren der Frau geleitet hatte, beugte sich jetzt über sie. Angelo war ein ehemaliger Preisboxer, der es nie zu hohen Ehren im Ring gebracht hatte. Er hatte dicke, wulstige Lippen, die Figur von einem Rhinozeros und war ein Schläger aus Leidenschaft, der seine Arbeit genoß. »Okay, du Zweidollarnutte, quatsch dich aus.«
Juanita, die sich gegen ihre Fesseln gestemmt hatte, um Estela sehen zu können, wandte ihm den Kopf zu. »?De que? Worüber?«
»Wie heißt das Schwein, das dich aus der Doppelsieben angerufen hat?«
Ein kurzes Zucken des Begreifens ging über Juanitas Gesicht. Tony Bär sah das und wußte, daß es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war, keiner sehr langen Zeit, bis er heraus hatte, was er wissen wollte.
»Du Schwein!... Tier!« Juanita spie Angelo an. »jCanalla!
Angelo schlug mit aller Kraft zu, so daß ihr das Blut aus Nase und Mundwinkeln rann. Juanitas Kopf sank vornüber. Er packte ihr Haar, riß ihren Kopf hoch und wiederholte: »Wer ist das Schwein, das dich aus der Doppelsieben angerufen hat?«
Sie antwortete mühsam, mit geschwollenen Lippen. »Maricön, nichts werd' ich dir sagen, bis du mein kleines Mädchen laufen läßt.«
Die Person hatte Mumm, gestand sich Tony Bär ein. Wäre sie anders gebaut gewesen, hätte er sich vielleicht damit amüsiert, sie auf andere Weise kleinzukriegen. Aber für seinen Geschmack war sie zu dürr - Hüften nicht der Rede wert, eine halbe Handvoll Arsch, Titten klein wie Erdnüsse.
Angelo nahm den Arm zurück und trieb ihn dann mit Wucht in ihren Leib. Juanita rang nach Luft und kippte nach vorn, so weit ihre Fesseln es zuließen. Estela, die auf dem Stuhl neben ihr alles sehen und hören konnte, schluchzte hysterisch. Das Geräusch störte Tony Bär. Das dauerte ihm alles viel zu lange. Man konnte das beschleunigen. Er winkte einen zweiten Leibwächter, Lou, zu sich heran und flüsterte ihm etwas zu. Lou machte ein Gesicht, als gefiele ihm nicht, was man ihm befahl, aber er nickte. Tony Bär gab ihm die Zigarre, die er geraucht hatte.
Während Lou wieder hinter der Trennwand hervorkam und leise etwas zu Angelo sagte, sah Tony Bär Marino sich um. Sie befanden sich in einem Kellerraum, sämtliche Türen waren geschlossen, man konnte also draußen nichts hören, aber selbst wenn Laute hinausdrangen, machte es nichts. Das fünfzig Jahre alte Haus, zu dem dieser Raum gehörte, stand auf eigenem großen Grundstück in allerbester Wohnlage und war geschützt wie eine Festung. Ein Syndikat, an dessen Spitze Tony Bär Marino stand, hatte das Haus vor acht Monaten gekauft und die Falschgeldzentrale hier installiert. Bald schon würde man das Haus als Vorsichtsmaßnahme wieder verkaufen und umziehen; ein neues Quartier war bereits ausgewählt. Es würde genauso harmlos, genauso unschuldig wirken wie dieses. Das war das Geheimnis des langen, erfolgreichen Betriebs, dachte Tony Bär manchmal voller Zufriedenheit: Häufige Umzüge, jedesmal in stille, hochanständige Gegenden, bei Reduzierung des Kommens und Gehens auf ein absolutes Minimum. Diese Übervorsicht hatte zwei Vorteile - nur ein paar Leute wußten genau, wo sich die Fälscherzentrale befand; und die Nachbarn schöpften keinen Verdacht, denn alles war gut getarnt. Es gab sogar ein genaues Programm für die Umzüge von einem Ort zum nächsten. Zu den Vorsichtsmaßregeln gehörten hölzerne Attrappen, die aussahen wie Möbel, die es in jedem Haushalt gibt und die genau über jedes Maschinenteil paßten, so daß ein zufälliger Beobachter es für einen ganz gewöhnlichen Familienumzug halten mußte. Und es wurde jedes Mal ein regulärer Möbelwagen benutzt, der einem der nach außen hin legalen Fuhrunternehmen der Organisation gehörte. Es gab auch Alarmpläne für den Notfall, wenn ein extra schneller Umzug erforderlich werden sollte.