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Ein Wort aus der Schöpfungsgeschichte kam ihm in den Sinn: Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir vergeben werden möge.

Ein Telefon läutete auf seinem Schreibtisch. Er ignorierte es.

Fast ohne es wahrzunehmen, stand er auf und ging aus dem Büro hinaus, vorbei an Mrs. Callaghan, die ihn mit einem merkwürdigen Blick ansah und ihm eine Frage stellte, die er weder aufnahm noch beantwortet hätte, wäre sie ihm ins Bewußtsein gedrungen. Er ging den Korridor des sechsunddreißigsten Stocks entlang, vorüber am DirektoriumSitzungszimmer, vor so kurzer Zeit noch die Arena seines Ehrgeizes. Mehrere Leute sprachen ihn an. Er beachtete sie nicht. Nicht weit hinter dem Sitzungszimmer befand sich eine kleine, selten benutzte Tür. Er machte sie auf. Dahinter waren Treppen, die hinauf führten, und er stieg sie empor, mehrere Treppenabsätze und Wendungen nahm er mit gleichmäßigem Schritt, weder eilig noch zögernd.

Einst, als der Tower der FMA-Zentrale ganz neu war, hatte Ben Rosselli seine Direktoren diesen Weg geführt. Roscoe Hey ward gehörte zu ihnen, und sie waren durch eine andere kleine Tür hinausgegangen, die er jetzt vor sich sehen konnte. Heyward öffnete sie und trat hinaus auf einen schmalen Balkon, der sich fast auf dem höchsten Punkt des Gebäudes befand, hoch über der Stadt.

Ein rauher Novemberwind traf ihn mit ruppiger Gewalt. Er stemmte sich dagegen und empfand ihn beinahe als beruhigend, so als hülle er ihn ein. Damals, erinnerte er sich, hatte Ben Rosselli die Arme zur Stadt hin ausgebreitet und gesagt: »Meine Herren, was einst hier war, das war das Gelobte Land meines Großvaters. Was Sie heute sehen, ist unseres. Denken Sie immer daran - wie er es tat -, daß wir, wollen wir im wahrsten Sinne des Wortes profitieren, ihm etwas geben, nicht nur nehmen müssen.« Es schien sehr lange her zu sein, dem Gebot nach ebenso wie nach der Zeit. Jetzt sah Heyward in die Tiefe. Er konnte kleinere Gebäude sehen, den windungsreichen, allgegenwärtigen Fluß, den Verkehr, Menschen, die sich tief unten auf der Rosselli Plaza wie Ameisen bewegten. Mit dem Wind kamen die Geräusche von alledem zu ihm, gedämpft und vermischt.

Er schob ein Bein über das hüfthohe Geländer, das den Balkon von einem schmalen, nicht geschützten Mauervorsprung trennte. Sein zweites Bein folgte. Bis zu diesem Augenblick hatte er keine Furcht empfunden, aber jetzt zitterte er am ganzen Körper, und seine Hände umklammerten fest das Geländer in seinem Rücken.

Irgendwo hinter sich hörte er aufgeregte Stimmen, Füße, die über die Treppen rannten. Irgend jemand schrie: »Roscoe!«

Sein vorletzter Gedanke war eine Zeile aus dem 1. Buch Samuelis: Gehe hin, der Herr sei mit dir. Der letzte galt Avril. O du Schönste unter den Weibern... Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!

Dann, als Gestalten durch die Tür hinter ihm stürmten, schloß er die Augen und tat einen Schritt nach vorn ins Nichts.

25

Es gab ein paar Tage in jedermanns Leben, dachte Alex Vandervoort, die blieben scharf und schmerzhaft eingegraben im Gedächtnis, so lange man atmete und sich an irgend etwas erinnerte. Der Tag - vor wenig mehr als einem Jahr -, an dem Ben Rosselli von seinem bevorstehenden Tod gesprochen hatte, war so ein Tag gewesen. Heute war ein anderer.

Es war Abend. Zu Hause in seiner Wohnung wartete Alex -noch unter dem Schock des eben Geschehenen, unsicher und entmutigt - auf Margot. Bald würde sie hier sein. Er mischte einen zweiten Scotch mit Soda und warf ein Scheit auf das Feuer, das heruntergebrannt war.

An diesem Morgen war er als erster durch die Tür auf den hohen Turmbalkon gekommen; er war die Treppen hinaufgerannt, nachdem er besorgte Äußerungen über Heywards Gemütsverfassung gehört und - nach raschen Fragen an andere - gefolgert hatte, wohin Roscoe gegangen sein konnte. Alex hatte aufgeschrien, als er durch die Tür ins Freie stürzte, aber er war zu spät gekommen.

Der Anblick Roscoes, der einen Augenblick lang in der Luft zu hängen schien, der dann mit einem entsetzlichen, rasch verhallenden Schrei aus dem Blickfeld verschwunden war, hatte Alex mit Schrecken erfüllt; er zitterte am ganzen Leibe und war Augenblicke lang außerstande, ein Wort zu sagen. Tom Straughan, der auf der Treppe unmittelbar hinter ihm war, hatte dann die Initiative ergriffen und befohlen, den Balkon zu räumen, ein Befehl, dem Alex schweigend gehorcht hatte.

Später, so sinnlos es nun auch schien, hatte man die Tür zum Balkon verschlossen.

Wieder in den sechsunddreißigsten Stock zurückgekehrt, hatte Alex sich zusammengenommen und war zu Jerome Patterton gegangen, um ihm zu berichten. Der Rest des Tages war ein Gemisch von Ereignissen, Entscheidungen, Einzelheiten gewesen, die aufeinander folgten und ineinander übergingen, bis das Ganze zu einem Nachruf auf Heyward wurde, der auch jetzt noch nicht fertig war, und mehr davon würde der morgige Tag bringen. Heute aber hatte man Roscoes Frau und Sohn benachrichtigt und sie getröstet; Erkundigungen der Polizei waren - wenigstens zum Teil - beantwortet worden; Vorbereitungen des Begräbnisses mußten geregelt werden - da der Tote unkenntlich war, würde man den Sarg verschließen, sobald die Behörden die Genehmigung erteilten; es gab eine von Dick French entworfene, von Alex genehmigte Presseerklärung; und immer neue Fragen wurden beantwortet oder aufgeschoben.

Antworten auf andere Fragen wurden Alex am Spätnachmittag klarer, kurz nachdem Dick French ihm empfohlen hatte, einen Anruf von einem »Newsday« -Reporter namens Endicott entgegenzunehmen. Als Alex mit ihm sprach, wirkte der Reporter verstört. Er sagte, er habe vor wenigen Minuten die AP-Meldung über Roscoe Heywards vermuteten Selbstmord gelesen. Endicott berichtete von seinem Telefongespräch an diesem Vormittag mit Heyward und was dabei herausgekommen sei. »Wenn ich geahnt hätte...«, schloß er lahm.

Alex versuchte nicht, dem Reporter Trost zu spenden. Sollte er doch selbst ins reine kommen mit den Moralbegriffen seines Berufes. Er fragte nur: »Druckt Ihre Zeitung den Bericht auch jetzt noch?«

»Ja, Sir. Die Redaktion schreibt einen neuen Vorspann. Davon abgesehen, erscheint er morgen wie geplant.«

»Warum haben Sie mich dann angerufen?«

»Ich glaube, ich wollte nur zu irgend jemand sagen - daß es mir leid tut.«

»Ja«, sagte Alex. »Mir auch.«

An diesem Abend dachte Alex noch einmal über das Gespräch nach, und er bedauerte Roscoe wegen der inneren Qual, die er in jenen letzten Minuten erlitten haben mußte.

Auf ganz anderer Ebene konnte nicht bezweifelt werden, daß die »Newsday«-Geschichte, wenn sie morgen erschien, der Bank schweren Schaden zufügen würde. Schaden wurde auf Schaden gehäuft. Obwohl es Alex gelungen war, den Run in Tylersville zu beenden, und obwohl es anderswo nicht zu einem sichtbaren Sturm auf die Schalter gekommen war, hatte es doch einen Schwund des Vertrauens im Publikum gegenüber der First Mercantile American gegeben und ein Abbröckeln der Einlagen. Während der letzten zehn Tage waren fast vierzig Millionen Dollar abgehoben worden, und die Einzahlungen blieben weit hinter der üblichen Höhe zurück. Gleichzeitig war der Kurs der FMA-Aktien an der New Yorker Börse stark abgerutscht.

Natürlich stand die FMA in dieser Beziehung nicht allein da. Seit der ursprünglichen Nachricht von der Illiquidität der Supranational hatte sich Besorgnis unter den Anlegern, der ganzen Geschäftswelt und auch unter den Bankern breitgemacht; die Kurse sackten allgemein ab; im Ausland waren erneute Zweifel am Wert des Dollars entstanden; einigen erschien das alles als die letzte deutliche Warnung vor dem großen Sog der weltweiten Depression.