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Sie wußte auch ganz genau, daß sie ihr Geldfach sicher verschlossen hatte, ehe sie es vor ihrer Mittagspause in den Tresorraum brachte, und sie wußte, daß es noch verschlossen war, als sie zurückkam; auch, daß sie die Kombination, die sie sich selbst ausgedacht, die sie selbst eingestellt hatte, keinem Menschen gegenüber je erwähnt hatte. Sie hatte sie auch nie aufgeschrieben; sie verließ sich, wie üblich, auf ihr Gedächtnis.

Und gerade dieses Gedächtnis hatte ihre Lage eigentlich noch verschlimmert.

Als sie um 14.00 Uhr die genaue Summe genannt hatte, die ihr fehlte, hatte ihr, wie sie wohl wußte, niemand geglaubt weder Mrs. D'Orsey noch Mr. Tottenhoe, noch Miles, der am freundlichsten von allen zu ihr gewesen war. Sie hatten es nicht für möglich gehalten, daß sie den Betrag kennen konnte.

Aber sie hatte ihn gekannt. Sie wußte immer, wieviel Bargeld sie noch hatte, wenn sie an ihrer Kasse stand. Nur konnte sie es den Leuten nicht erklären, wie oder warum das so war.

Sie war sich nicht einmal selbst genau im klaren darüber, wie sie die laufenden Additionen und Subtraktionen in ihrem Kopf vornahm. Es funktionierte einfach. Es geschah ganz ohne Anstrengung, die Rechenvorgänge waren ihr kaum bewußt. Solange Juanita zurückdenken konnte, waren ihr Addieren und Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren so einfach wie das Atmen erschienen und ebenso natürlich.

Sie tat es automatisch, wenn sie am Schalter Geld von einem Kunden entgegennahm oder Geld auszahlte. Und sie hatte es sich angewöhnt, immer wieder einen Blick auf ihren Barbestand zu werfen, zu kontrollieren, ob das Geld, das sie noch zur Verfügung hatte, auch wirklich vorhanden war, ob die Noten der verschiedenen Werte alle in ausreichender Menge an ihrem vorgeschriebenen Platz lagen. Es klappte sogar bei den Münzen. Da wußte sie zwar die Gesamtsumme nicht so genau wie bei den Noten, aber sie konnte den Betrag jederzeit recht genau überblicken und schätzen. Manchmal, wenn sie am Ende eines besonders lebhaften Tages ihr Geld nachzählte und durchrechnete, konnte die Zahl, die sie im Kopf hatte, um ein paar Dollar von der tatsächlichen Summe abweichen, um mehr aber nie.

Woher hatte sie diese Fähigkeit? Sie wußte es nicht.

Sie hatte in der Schule nie geglänzt, hatte in den meisten Fächern selten über dem unteren Durchschnitt gelegen. Selbst in Mathematik begriff sie im Grunde das Wesentliche nicht; sie konnte nur blitzartig rechnen und Zahlen im Kopfe speichern.

Endlich erschien der Bus mit Dieselgestank und stotterndem Motorengeräusch. Zusammen mit den anderen Wartenden kletterte sie hinein. Sitze waren nicht mehr frei, selbst die Stehenden fanden kaum Platz. Es gelang ihr, sich irgendwo festzuhalten, und während der Bus durch die Straßen der Stadt schwankte, zermarterte sie weiter ihr Gehirn.

Was würde morgen passieren? Miles hatte gesagt, daß Männer vom FBI kommen würden. Die Vorstellung ließ neue Furcht in ihr aufsteigen, und ihr Gesicht verkrampfte sich bei dem Gedanken an ihre aussichtslose Situation - es war der gleiche Ausdruck, den Edwina D'Orsey und Nolan Wainwright für Feindseligkeit gehalten hatten.

Am besten war es, so wenig wie möglich zu sagen, genau wie an diesem Tag. Es glaubte ihr ja doch niemand.

Was nun den Apparat betraf, den Lügendetektor, da würde sie sich weigern. Sie hatte keine Ahnung, wie so ein Ding funktionierte, aber wenn kein Mensch sie verstehen, ihr glauben oder ihr helfen wollte, warum sollte dann ein Apparat - der noch dazu der Bank gehörte - sich anders verhalten?

Sie mußte drei Häuserblocks weit marschieren von der Bushaltestelle bis zu dem Kindergarten, wo sie Estela morgens auf dem Weg zur Arbeit abzuliefern pflegte. Juanita ging, so schnell sie konnte, denn es war später als gewöhnlich.

Das kleine Mädchen lief ihr entgegen, als sie das enge Vorschul-Spielzimmer im Souterrain des Privathauses betrat. Das Haus war, wie alle anderen in dieser Gegend, alt und heruntergekommen, aber die Klassenzimmer waren sauber und fröhlich - und aus diesem Grunde hatte Juanita gerade diesem privaten Kindergarten den Vorzug gegeben, obwohl hier das Schulgeld höher war und ihren Etat stark belastete.

Estela war aufgeregt, voll Lebensfreude wie immer.

»Mammi! Mammi! Guck mal, mein Bild. Das ist eine PuffPuff.« Sie zeigte mit einem farbverschmierten Finger. »Da ist die Bemse. Das ist ein Mann.«

Sie war klein für ihre drei Jahre, dunkel wie Juanita, mit großen, blanken Augen, in denen sich jedes neue von ihr entdeckte Wunder spiegelte.

Juanita drückte sie an sich und sprach ihr liebevoll vor: »Bremse, amorcito.«

Die Stille in dem Haus besagte deutlich, daß die anderen Kinder schon alle gegangen waren.

Miss Ferroe, Inhaberin und Leiterin des Kindergartens, kam steif, mit gerunzelter Stirn herein. Sie warf einen vielsagenden Blick auf ihre Armbanduhr.

»Mrs. Nunez, als besonderes Entgegenkommen hat Estela Erlaubnis erhalten, länger zu bleiben als die anderen, aber dies ist wirklich viel zu spät... «

»Es tut mir leid, Miss Ferroe. In der Bank ist etwas Unvorhergesehenes passiert.«

»Auch ich habe private Verpflichtungen. Und die anderen Eltern beachten die Schlußzeiten unserer Schule.«

»Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.«

»Gut. Und da Sie gerade hier sind, Mrs. Nunez - darf ich Sie daran erinnern, daß die letzte Monatsrechnung für Estela noch nicht beglichen ist.«

»Ich zahle am Freitag. Dann bekomme ich mein Gehalt.«

»Ich bedaure, es erwähnen zu müssen, bitte verstehen Sie das. Estela ist ein liebes kleines Mädchen, und wir freuen uns, sie bei uns zu haben. Aber auch ich habe Rechnungen zu begleichen... «

»Ich verstehe. Freitag ganz bestimmt. Ich verspreche es.«

»Das ist das zweite Versprechen, Mrs. Nunez.«

»Ja, ich weiß.«

»Also gute Nacht dann. Gute Nacht, Estela.«

Trotz ihrer steifleinenen Art konnte diese Frau hervorragend mit Kindern umgehen, und Estela war glücklich dort. Das Geld, das sie dem Kindergarten noch schuldete, würde sie diese Woche von ihrem Gehalt nehmen müssen. Wie die anderen Kassierer erhielt sie es wöchentlich per Scheck. Irgendwie mußte sie dann eben zurechtkommen. Wie, das wußte sie noch nicht genau. Als Kassiererin verdiente sie 98 Dollar pro Woche. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben blieben ihr netto 83 Dollar. Davon mußte sie das Essen für zwei Personen bezahlen, die Miete für die kleine Etagenwohnung in Forum East ebenfalls, und auch die Finanzierungsgesellschaft würde die Zahlung der fälligen Raten verlangen, weil sie die letzte nicht überwiesen hatte.

Bevor Carlos vor einem Jahr einfach weggegangen und nicht wiedergekommen war, hatte Juanita in ihrer Naivität gemeinsam mit ihrem Mann einige Abzahlungsverträge unterschrieben. Er hatte sich Anzüge gekauft, einen Gebrauchtwagen, ein Farbfernsehgerät, und alles hatte er mitgenommen. Juanita zahlte noch immer; die Raten schienen sich grenzenlos in die Zukunft fortzupflanzen.

Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, dachte sie, als zur Finanzierungsgesellschaft zu gehen und um noch niedrigere Raten zu bitten. Man würde wieder unfreundlich reagieren, aber das mußte sie ertragen.

Auf dem Weg nach Hause hüpfte Estela fröhlich neben ihr her, die eine kleine Hand fest in Juanitas gelegt. In der anderen Hand trug Juanita das sorgsam zusammengerollte Bild, das Estela gemalt hatte. In der Wohnung angelangt, würden sie dann Abendbrot essen und hinterher zusammen spielen und lachen. Heute abend würde ihr das Lachen schwerfallen, dachte Juanita.

Die Angst und die Hilflosigkeit, die sie am Nachmittag empfunden hatte, vertieften sich noch, als sie zum ersten Mal daran dachte, was geschehen würde, wenn sie ihre Stellung verlor. Die Wahrscheinlichkeit war groß, das wußte sie.