Sie wußte auch, daß es sehr schwer sein würde, eine andere Arbeit zu finden. Keine andere Bank würde sie einstellen, und andere Arbeitgeber würden sie nach ihrem bisherigen Arbeitsplatz fragen, man würde sich erkundigen, von dem verschwundenen Geld hören und ihre Bewerbung ablehnen.
Was sollte sie machen, wenn sie keine Arbeit hatte? Wie sollte sie Estela versorgen?
Plötzlich blieb Juanita stehen, nahm ihre Tochter in die Arme und preßte sie an sich.
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß ihr morgen jemand glauben, die Wahrheit erkennen würde...
Jemand, irgendjemand.
Aber wer?
9
Auch Alex Vandervoort war in der Stadt unterwegs.
Als er am Nachmittag von seinem Gespräch mit Nolan Wainwright zurückgekehrt war, hatte Alex, in seiner Büro-Suite auf und ab marschierend, versucht, die neuesten Ereignisse in die rechte Perspektive zu rücken. Ben Rossellis Ankündigung vom Vortag bot genügend Stoff zum Nachdenken. Desgleichen die neue, sich daraus ergebende Situation in der Bank. Und reichlich Stoff zum Nachdenken boten auch die Dinge, die sich in den letzten Monaten in Alex Vandervoorts persönlichem Leben entwickelt hatten.
Auf und ab zu marschieren - zwölf Schritte hin, zwölf Schritte zurück -, das war eine alte Gewohnheit von ihm. Einoder zweimal war er stehengeblieben und hatte noch einmal die gefälschten Keycharge-Kreditkarten, die der Sicherheitschef ihm überlassen hatte, genau betrachtet. Kredite und Kreditkarten beschäftigten ihn noch zusätzlich - nicht nur gefälschte Karten, sondern auch die echten.
Die echten waren hier durch Fahnenabzüge von Anzeigen vertreten, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Texte und Layout stammten von der Werbeagentur Austin, und die Anzeigen hatten den Zweck, die Inhaber von KeychargeKreditkarten zur stärkeren Benutzung ihrer Karten anzuregen.
Eine Anzeige drängte:
GELDSORGEN? WARUM?
BENUTZEN SIE IHRE KEYCHARGE-KARTE
UND
ÜBERLASSEN SIE UNS IHRE GELDSORGEN!
Eine andere behauptete:
RECHNUNGEN SIND SCHMERZLOS WENN SIE SAGEN »BUCHEN SIE'S VON MEINEM KEYCHARGE-KONTO AB!«
Eine dritte riet:
WARUM WARTEN?
IHR ZUKUNFTSTRAUM WIRD WIRKLICHKEIT - SCHON HEUTE!
BENUTZEN SIE KEYCHARGE
- JETZT!
Ein halbes Dutzend andere Anzeigen beschäftigte sich mit dem gleichen Thema.
Alex Vandervoort empfand Unbehagen, wenn er die Texte las.
Sein Unbehagen brauchte jedoch nicht in Taten umgesetzt zu werden. Die Anzeigentexte waren schon von der KeychargeAbteilung der Bank genehmigt und Alex nur zur Kenntnisnahme vorgelegt worden. Außerdem war die generelle Stoßrichtung der Texte schon vor mehreren Wochen vom Direktorium der Bank gebilligt worden, um die Ertragslage bei Keycharge zu steigern, denn das System hatte - wie alle Kreditkarten-Programme - in den ersten Jahren nach der Einführung Verluste gebracht.
Aber hatte das Direktorium wirklich eine so unverhohlen aggressive Werbekampagne im Auge gehabt?
Alex schob die Anzeigenabzüge zusammen und legte sie wieder in den Aktendeckel zurück. Am Abend, zu Hause, wollte er sie sich noch einmal vornehmen, und er würde eine zweite Meinung einholen, wahrscheinlich eine sehr entschiedene. Von Margot.
Margot.
Während er an sie dachte, kam ihm die Erinnerung zurück an das, was Ben Rosselli am Vortag zu ihnen gesagt hatte. Worte, die Alex als Mahnung empfunden hatte, als Mahnung an die Zerbrechlichkeit des Lebens, die Kürze der verbleibenden Zeit, an das unvermeidliche Ende; ein warnend erhobener Finger, daß das Unerwartete immer neben uns steht. Er war bewegt gewesen und traurig, weil es um Ben ging; aber der alte Mann hatte auch, ohne es zu wollen, aufs neue eine Frage heraufbeschworen, die Alex sich wieder und wieder gestellt hatte: Sollte er ein neues Leben mit Margot anfangen? Oder sollte er warten? Und worauf sollte er warten?
Auf Celia?
Diese Frage hatte er sich tausendmal gestellt.
Alex schaute hinaus über die Stadt, dorthin, wo er Celia wußte. Er fragte sich, was sie jetzt wohl tun mochte, wie es ihr ginge.
Die Antwort auf diese Fragen war leicht zu bekommen.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte.
Eine Frauenstimme sagte: »Privates Pflegeheim.«
Er nannte seinen Namen und sagte: »Könnte ich bitte Dr. McCartney sprechen?«
Kurz darauf erkundigte sich eine ruhige und feste Männerstimme: »Wo sind Sie jetzt, Alex?«
»In meinem Büro. Ich habe an meine Frau denken müssen und wie es ihr wohl geht.«
»Ich frage, weil ich Sie heute anrufen und Ihnen vorschlagen wollte, ob Sie Celia nicht besuchen mögen.«
»Letztes Mal sagten Sie, ich sollte lieber davon Abstand nehmen.«
Der Psychiater berichtigte ihn behutsam. »Ich sagte, daß ich weitere Besuche vorläufig für nicht ratsam hielte. Die letzten Besuche, wie Sie sich erinnern werden, haben Ihre Frau eher aufgeregt, anstatt ihr zu helfen.«
»Ich weiß.« Alex zögerte, dann fragte er: »Es ist also eine Änderung eingetreten?«
»Ja, und ich wollte, ich könnte sagen, zum Besseren.«
Es hatte sich so oft etwas geändert, daß er schon ein wenig abgestumpft war. »Was für eine Veränderung?«
»Ihre Frau kapselt sich immer stärker ab. Ihre Flucht vor der Wirklichkeit ist jetzt fast absolut. Deshalb meine ich, daß Ihr Besuch vielleicht nützlich sein könnte.« Gleich darauf korrigierte er sich: »Zumindest dürfte er nicht schaden.«
»Gut. Ich komme heute abend vorbei.«
»Wann Sie wollen, Alex; und schauen Sie bitte zu mir herein. Sie wissen ja, wir haben keine festen Besuchszeiten und keine strengen Hausregeln.«
»Ja, ich weiß.«
Das war einer der Gründe dafür gewesen, dachte er, als er den Hörer auflegte, daß er dieses Heim gewählt hatte, als er vor fast vier Jahren in seiner Verzweiflung entscheiden mußte, was mit Celia geschehen sollte. In dem Heim wurde bewußt jede Anstaltsatmosphäre vermieden. Die Schwestern trugen keine Schwesterntracht. Soweit es zulässig und tragbar war, gestattete man den Patienten, sich frei zu bewegen und eigene Entscheidungen zu treffen. Von wenigen Fällen abgesehen, durften Freunde und Angehörige jederzeit zu Besuch kommen. Selbst der Name »Privates Pflegeheim« war gewählt worden, um möglichst jeden Gedanken an Irrenhaus und Asyl zu vertreiben. Und ein weiterer Grund, dieses Heim zu wählen, war die Tatsache, daß hier Dr. Timothy McCartney, ein junger, glänzender und ideenreicher Psychiater, einem Spezialistenteam vorstand, das schon Fälle geheilt hatte, in denen andere, übliche Behandlungsmethoden versagt hatten.
Es war eine kleine Klinik. Es gab hier nie mehr als einhundertundfünfzig Patienten, dafür war der Stab an Ärzten und Pflegepersonal ungewöhnlich groß. Man konnte sie mit einer Schule vergleichen, in der es nur kleine Klassen gab, so daß dem einzelnen Schüler mehr persönliche Aufmerksamkeit gewidmet werden konnte.
Der moderne Bau selbst und die Gartenanlagen waren so erfreulich, wie Geld und Phantasie es nur zu schaffen vermochten.
Es war eine Privatklinik. Und sie war enorm teuer, aber Alex war damals wie jetzt entschlossen, Celia unter allen Umständen die beste Pflege zu verschaffen. Es war, fand er, das wenigste, was er tun konnte.
Den Rest des Nachmittags widmete er Bankgeschäften. Kurz nach 18.00 Uhr verließ er die FMA-Zentrale, gab seinem Fahrer die Adresse der Klinik und las die Abendzeitung, während sie durch den Verkehr vorankrochen. Limousine und Fahrer aus dem Fuhrpark der Bank standen ihm in seiner Stellung jederzeit zur Verfügung - ein Privileg, das Alex genoß.