Edwina D'Orsey dachte: Den Zeitpunkt werden wir nicht wählen können. In dem Augenblick, da sich das Sitzungszimmer leerte, würde sich das eben Gehörte mit der Geschwindigkeit eines Präriefeuers durch die ganze Bank und weit darüber hinaus ausbreiten. Die Nachricht würde viele berühren einige schmerzlich, andere mehr in sachlicher Hinsicht. Sie selbst fühlte sich wie betäubt, und sie spürte, daß die anderen ähnlich reagierten.
»Mr. Ben«, sagte plötzlich einer der älteren Anwesenden. Pop Monroe war Bürochef in der Treuhandabteilung, und er sprach mit unsicherer Stimme. »Mr. Ben, ich weiß nicht, was - ich meine, es hat uns die Sprache verschlagen. Ich glaube, keiner weiß, was er jetzt dazu sagen soll.«
Zustimmendes und mitfühlendes Gemurmel wurde laut, fast wie ein Aufstöhnen.
Roscoe Heyward übertönte es mit glatter, starker Stimme: »Was wir sagen können und auch sagen müssen« - es schwang ein Hauch von Tadel mit, als wollte der Finanzdirektor zu verstehen geben, daß die anderen ihm als erstem das Wort hätten überlassen sollen -, »ist folgendes: Diese furchtbare Nachricht hat uns wie ein Schlag getroffen, und sie erfüllt uns mit Trauer. Doch wir beten um Zeitaufschub und damit um Hoffnung. Wie die meisten von uns wissen, sind ärztliche Voraussagen nur selten richtig und genau. Und die ärztliche Wissenschaft kann heute sehr viel leisten, wenn es darum geht aufzuhalten, ja, zu heilen... «
»Roscoe, ich sagte doch, daß ich das schon alles hinter mir habe«, sagte Ben Rosselli mit einer ersten Spur von Gereiztheit. »Und was die Ärzte betrifft, so habe ich die besten konsultiert, wie Sie ja wohl auch nicht anders erwartet haben.«
»Allerdings«, sagte Heyward. »Aber wir müssen immer daran denken, daß es eine höhere Macht gibt als Ärzte, und es muß unser aller Pflicht sein« - er warf einen fordernden Blick in die Runde -, »zu Gott um Gnade zu beten oder doch wenigstens um mehr Zeit, als Sie jetzt zu haben glauben.«
Der ältere Mann sagte trocken: »Mir scheint, daß Gott sich schon entschieden hat.«
Alex Vandervoort bemerkte: »Ben, wir sind alle sehr betroffen. Mir selbst tut ganz besonders leid, was ich vorhin gesagt habe.«
»Das mit dem Feiern? Ich bitte Sie! Wie hätten Sie es denn wissen sollen.« Der alte Mann kicherte in sich hinein. »Und außerdem, warum eigentlich nicht? Ich habe ein schönes Leben hinter mir, was nicht jeder von sich sagen kann. Das ist Anlaß genug zum Feiern.« Er tastete seine Anzugtaschen ab, dann sah er die anderen fragend an. »Hat jemand eine Zigarette für mich? Die Ärzte haben's mir verboten.«
Mehrere Schachteln wurden ihm hingehalten. Roscoe Heyward fragte: »Sollten Sie das nicht lieber sein lassen?«
Ben Rosselli warf ihm einen sarkastischen Blick zu, versagte sich aber die Antwort. Es war kein Geheimnis, daß er den Bankier Heyward zwar respektierte, aber nie zu einer persönlichen Beziehung zu ihm gelangt war.
Alex Vandervoort gab dem Bankpräsidenten Feuer. Seine Augen waren feucht; das galt auch für manchen anderen.
»In einem Augenblick wie diesem«, sagte Ben, »muß man für Verschiedenes dankbar sein. So zum Beispiel für die Tatsache, daß man eine Vorwarnung erhalten hat, daß einem also Gelegenheit geschenkt ist, manches noch in Ordnung zu bringen.« Der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich um ihn herum. »Natürlich gibt es andererseits auch Anlaß genug, den Lauf zu bedauern, den manches genommen hat. Auch darüber grübelt man nach.«
Niemandem brauchte man zu sagen, was er vor allem bedauerte - daß er keinen Erben hatte. Sein einziger Sohn war im Zweiten Weltkrieg gefallen; und nur wenige Jahre waren vergangen, seit ein vielversprechender Enkel inmitten der sinnlosen Vergeudung in Vietnam sein Leben hatte lassen müssen.
Ein Hustenanfall schüttelte den alten Mann. Nolan Wainwright, der ihm am nächsten stand, griff hinüber, nahm die Zigarette aus zitternden Fingern entgegen und drückte sie aus. Jetzt wurde deutlich, wie geschwächt Ben Rosselli war, wie sehr ihn dieser heutige Tag angestrengt hatte.
Niemand ahnte es, aber er sollte die Bank nie mehr betreten.
Sie kamen einzeln zu ihm, schüttelten ihm vorsichtig die Hand und suchten nach Worten. Als Edwina D'Orsey an der Reihe war, küßte sie ihn leicht auf die Wange, und er blinzelte ihr zu.
2
Roscoe Heyward verließ als einer der ersten das Sitzungszimmer. Für den Vizepräsidenten und Finanzdirektor hatten sich aus dem eben Gehörten zwei wichtige Aufgaben ergeben.
Die eine war die Sicherstellung eines reibungslosen Führungswechsels nach Ben Rossellis Tod. Die zweite war die Sicherstellung seiner eigenen Ernennung zum Präsidenten und Direktoriumsvorsitzenden.
Heyward galt schon länger als aussichtsreicher Kandidat. Dasselbe traf auf Alex Vandervoort zu, und möglicherweise hatte Alex, jedenfalls innerhalb der Bank selbst, die stärkere Hausmacht. Im Direktorium aber, wo die Entscheidung fallen würde, hatte Heyward nach eigener Überzeugung die bessere Unterstützung.
Erfahren in allen Sparten der Bankpolitik und ausgestattet mit einem stahlharten, disziplinierten Verstand, hatte Heyward schon während der Direktoriumssitzung begonnen, seinen Feldzug zu planen. Jetzt strebte er seiner Büro-Suite zu, getäfelten Räumen mit dichten, beigefarbenen Teppichböden und einem atemberaubenden Blick auf die sich tief unten ausbreitende Stadt. Als er an seinem Schreibtisch saß, ließ er die rangältere seiner beiden Sekretärinnen, Mrs. Callaghan, kommen und deckte sie mit einem Schnellfeuer von Anweisungen ein.
Die erste Anweisung lautete, sofort alle auswärtigen Mitglieder des Direktoriums anzurufen, mit denen Roscoe Heyward der Reihe nach zu sprechen gedachte. Eine Namenliste lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Von diesen speziellen Gesprächen abgesehen, wünschte er nicht gestört zu werden.
Außerdem erhielt sie Anweisung, beim Hinausgehen die äußere Bürotür zu schließen, was ungewöhnlich war, denn FMA-Direktoren respektierten die vor einem Jahrhundert begründete und von Ben Rosselli entschlossen gewahrte Tradition der offenen Tür. Es galt nun, diese Tradition abzubauen. Alleinsein war im Moment das wichtigste.
Mit schnellem Blick hatte Heyward während der Vormittagssitzung erkannt, daß außer den leitenden Angestellten nur zwei Direktoriumsmitglieder der First Mercantile American zugegen gewesen waren. Diese beiden Direktoren waren persönliche Freunde Ben Rossellis - und das war offensichtlich der Grund, warum er sie dazugebeten hatte. Was bedeutete, daß fünfzehn Mitglieder des Direktoriums bislang noch nichts von seinem zu erwartenden Ableben wußten. Heyward wollte sicherstellen, daß alle fünfzehn die Nachricht von ihm persönlich erhielten.
Er kalkulierte zwei Möglichkeiten ein. Erstens waren die Tatsachen so plötzlich und so folgenschwer, daß es zu einem instinktiven Bündnis zwischen dem Empfänger der Nachricht und ihrem Übermittler kommen mußte. Und außerdem war es denkbar, daß einige Direktoren es übel vermerken würden, daß man sie nicht im voraus informiert hatte, insbesondere da einige FMA-Angestellten der niederen Weihen die Erklärung im Sitzungszimmer hatten anhören dürfen. Roscoe Heyward war entschlossen, aus solchen Ressentiments Kapital zu schlagen.
Ein Summer ertönte. Er nahm das erste Telefonat entgegen und begann zu sprechen. Es folgte ein weiterer Anruf, dann noch einer. Mehrere Direktoren waren nicht in der Stadt, aber Dora Callaghan, als erfahrene und loyale Adjutantin, spürte sie auf.
Eine halbe Stunde nach Beginn seiner Telefonate informierte Roscoe Hey ward den Honorable Harold Austin mit ernster Stimme: »Hier in der Bank sind wir natürlich alle schmerzlichst berührt. Was Ben uns erzählt hat, erscheint uns einfach unglaublich.«