Die Klinik bot nach außen die Fassade eines großen Privathauses, durch nichts kenntlich gemacht als durch das übliche Nummernschild.
Eine attraktive Blondine in einem buntgemusterten Kleid ließ ihn ein. Eine kleine Anstecknadel an ihrer linken Schulter wies sie als Krankenschwester aus. Das war der einzige geduldete Unterschied in der Kleidung zwischen Personal und Patienten.
»Herr Doktor hat uns schon gesagt, daß Sie kommen, Mr. Vandervoort. Ich bringe Sie zu Ihrer Frau.«
Er ging neben ihr einen freundlichen Korridor entlang. Gelbund Grüntöne herrschten vor. In Nischen an den Wänden standen frische Blumen.
»Ich höre, daß es meiner Frau nicht besser geht«, sagte er.
»Leider nicht, fürchte ich.« Die Schwester warf ihm von der Seite einen raschen Blick zu; er spürte Mitleid in ihren Augen. Aber - Mitleid mit wem? Wie immer, wenn er hierher kam, merkte er, daß sin normaler optimistischer Schwung ihn im Stich ließ.
Sie befanden sich in einem Seitenflügel, einem der drei, die von der Empfangshalle abzweigten. Die Schwester blieb an einer Tür stehen.
»Ihre Frau ist in ihrem Zimmer, Mr. Vandervoort. Sie hatte heute keinen guten Tag. Bitte bedenken Sie das, falls sie nicht ganz...« Sie ließ den Satz unvollendet, berührte ihn ganz leicht am Arm und ging dann vor ihm in das Zimmer.
In dieser Klinik wurden die Patienten in Doppel- oder Einzelzimmern untergebracht, je nachdem, was man sich von der Gesellschaft anderer auf ihr Befinden versprach. Als Celia kam, brachte man sie zunächst in einem Zweibettzimmer unter, aber es hatte sich nicht bewährt; jetzt hatte sie ein Einzelzimmer. Der Raum war klein, aber sehr behaglich und persönlich. Er enthielt eine Couch, einen bequemen Lehnstuhl, ein kleines Sofa, einen Spieltisch und Bücherregale. Impressionistendrucke schmückten die Wände.
»Mrs. Vandervoort«, sagte die Schwester mit sehr sanfter Stimme, »Sie haben Besuch, Ihr Mann ist hier.«
Die Gestalt in dem Zimmer reagierte nicht, weder durch ein Wort noch durch eine Bewegung.
Alex hatte Celia zuletzt vor anderthalb Monaten gesehen, und obwohl er mit einer Verschlechterung ihres Zustandes gerechnet hatte, war ihr Anblick wie ein kalter Griff nach seinem Herzen.
Sie saß - wenn man diese Haltung so bezeichnen konnte etwas seitlich auf der Couch, so daß sie die Zimmertür schräg im Rücken hatte. Mit hängenden Schultern, den Kopf tief gesenkt, die Arme vor der Brust gekreuzt, so daß jede Hand eine Schulter umklammerte. Auch ihr Körper war zusammengekrümmt, die Beine waren angezogen, die Knie aneinandergepreßt. In dieser Haltung verharrte sie ohne die geringste Bewegung.
Er ging auf sie zu und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Hallo, Celia. Ich bin's - Alex. Ich habe an dich gedacht. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu besuchen.«
Sie sagte leise, ohne Ausdruck: »Ja.« Sie rührte sich nicht.
Er verstärkte leicht den Druck auf ihre Schulter. »Willst du mich nicht einmal ansehen? Dann können wir uns zusammensetzen und ein bißchen plaudern.«
Die einzige Reaktion war eine spürbar werdende Starre, ein Versteifen der kauernden Position.
Ihre Haut war fleckig und ihr Haar nur flüchtig gekämmt, stellte Alex fest. Doch ihre sanfte, zerbrechliche Schönheit war noch nicht völlig geschwunden; aber lange konnte das nicht mehr dauern.
»Ist sie schon lange so?« fragte er die Schwester leise.
»Heute schon den ganzen Tag, gestern zum Teil; auch an einigen anderen Tagen war es so.« Sachlich fügte die junge Schwester hinzu: »Es ist für sie bequemer so; Sie lassen sich also am besten nichts anmerken. Setzen Sie sich einfach und unterhalten Sie sich mit ihr.«
Alex nickte. Während er in dem Lehnstuhl Platz nahm, ging die Schwester auf Zehenspitzen hinaus und schloß leise die Tür.
»Ich war vorige Woche im Ballett, Celia«, erzählte Alex. »Coppelia. Natalia Makarova tanzte die Titelrolle, Ivan Nagy den Franz. Sie waren ganz großartig zusammen, und die Musik war natürlich wunderbar. Ich mußte daran denken, wie sehr du Coppelia liebst, daß es immer dein Lieblingsballett war. Weißt du noch, wie du und ich an dem einen Abend, kurz nachdem wir geheiratet hatten,... «
Selbst jetzt noch sah er deutlich vor sich, wie Celia an jenem Abend ausgesehen hatte - in einem langen, blaßgrünen Chiffonkleid mit winzigen Pailletten, die glitzernd das Licht reflektierten. Wie üblich war sie von ätherischer Schönheit, schlank und zart wie Mariengarn, so als könne der nächste leise Windhauch kommen und sie ihm entführen, wenn er gerade nicht hinschaute. Er ließ sie damals nicht oft aus den Augen. Sie waren gerade sechs Monate verheiratet, und sie war noch immer scheu, wenn sie Freunde von Alex kennenlernte; oft, wenn sie mit mehreren von ihnen zusammenstanden, klammerte sie sich fest an seinen Arm. Sie war zehn Jahre jünger als er, und er hatte sich weiter nichts dabei gedacht. Im Gegenteil. Celias Scheu war damals, im Anfang, einer der Gründe gewesen, daß er sich in sie verliebt hatte, und ihre totale Abhängigkeit von ihm hatte ihn mit Stolz erfüllt. Erst viel später, als sie ihre Hilflosigkeit und Unsicherheit nicht ablegte -törichterweise, wie es ihm schien -, war er langsam ungeduldig und schließlich manchmal ärgerlich geworden.
Wie wenig hatte er damals begriffen, wie tragisch wenig! Mit etwas mehr Einsicht hätte er begreifen können, daß Celias Leben vor ihrer Begegnung grundverschieden von seinem eigenen verlaufen war und nichts sie auf das aktive gesellschaftliche und häusliche Leben vorbereitet hatte, das er als Selbstverständlichkeit hinnahm. Für Celia war alles neu und verwirrend und nicht selten auch beängstigend. Sie war das einzige Kind zurückgezogen lebender Eltern in bescheidenen Verhältnissen, sie hatte Klosterschulen besucht und nie etwas von dem Sauerteig des robusten College-Lebens gekostet. Bevor sie Alex kennenlernte, hatte sie nie irgendeine eigene Verantwortung getragen; ihre gesellschaftliche Erfahrung war gleich Null. Die Ehe steigerte ihre Unsicherheit; gleichzeitig wuchsen in ihr Spannungen und Zweifel an sich selbst, bis schließlich - wie die Psychiater es erklärten - durch die Last des Schuldgefühls ob ihres vermeintlichen Versagens etwas in ihr zerriß. Jetzt, rückblickend, machte Alex sich die schlimmsten Vorwürfe. Er hätte Celia so leicht helfen können, ihr Ratschläge erteilen, Spannungen abbauen, Beruhigung und Sicherheit geben können. Aber als es darauf ankam, hatte er nichts davon getan. Da hatte er nicht darüber nachgedacht, da war er zu beschäftigt gewesen, mit seiner Arbeit und mit seiner Karriere...
»... und es hat mir ehrlich leid getan, Celia, daß wir diese Vorstellung letzte Woche nicht gemeinsam gesehen haben... «
Dabei war er mit Margot in Coppelia gewesen, Margot, die er jetzt seit anderthalb Jahren kannte und die liebevoll jene Lücke ausfüllte, die es in seinem Leben nun schon so lange gab. Ohne Margot - oder eine andere - wäre Alex, schließlich ein Mann aus Fleisch und Blut, bald selbst ein Fall für den Psychiater geworden. Das jedenfalls redete er sich manchmal ein. Oder war das nur Selbsttäuschung, ein bequemes Argument gegen Schuldgefühle?
Jedenfalls war jetzt weder Ort noch Zeit, um Margots Namen zu erwähnen.
»Ach ja, und neulich habe ich die Harringtons getroffen. Du erinnerst dich doch an John und Elise. Sie haben mir erzählt, daß sie in Skandinavien waren und Elises Eltern besucht haben.«
»Ja«, sagte Celia tonlos.
Sie verharrte noch immer regungslos in ihrer zusammengekauerten Haltung, aber sie schien zuzuhören, deshalb sprach er weiter, in seinen Gedanken nur halb bei der Sache und in Wahrheit sich immer wieder fragend: Wie konnte es geschehen? Warum?
»Wir hatten in letzter Zeit viel Arbeit in der Bank, Celia.«
Einer der Gründe, nahm er an, mochte seine Arbeitswut gewesen sein, die vielen Stunden, die er Celia allein gelassen hatte, während ihre Ehe immer schwereren Schaden nahm. Das war, wie er jetzt wußte, gerade zu jener Zeit gewesen, als sie ihn am meisten brauchte. Celia hatte seine häufige Abwesenheit ohne Klage hingenommen, aber sie war immer furchtsamer geworden, hatte sich immer weiter in sich selbst zurückgezogen, hatte sich in Büchern vergraben oder endlos lange Pflanzen und Blumen betrachtet, als wollte sie ihr Wachsen beobachten; doch gelegentlich war sie - ganz gegen ihre sonstige Art und ohne ersichtlichen Grund - plötzlich von Lebhaftigkeit erfüllt gewesen, hatte endlos und manchmal auch zusammenhanglos geredet. In diesen Phasen schien Celia ganz ungewöhnliche Energien zu besitzen. Aber ebenso plötzlich war die Energie wieder verschwunden, und zurück blieb ein depressives, ganz in sich selbst versunkenes Geschöpf. Und währenddessen hatte sich der Kontakt zwischen ihnen fortschreitend vermindert, war jede Gemeinsamkeit geschrumpft.