Er stand auf und wanderte auf und ab, bemüht, seine Energie in eine andere Richtung zu lenken. Doch sie ließ sich nicht in andere Richtungen lenken.
Am Fenster stehend, bemerkte er, daß sich ein strahlender Dreiviertelmond erhoben hatte. Er badete den Garten, die Strände und das Meer in weißes, verklärtes Licht. Bei diesem Anblick kam ihm eine längst vergessene Zeile wieder in den Sinn: Der Mond schuf die Nacht zur Liebe...
Er nahm seine Wanderung wieder auf, kehrte ans Fenster zurück, stand dort, aufgerichtet.
Zweimal machte er eine Bewegung hin zum Nachttisch mit der Sprechanlage. Zweimal ließen Entschluß und Festigkeit ihn umkehren.
Beim dritten Mal kehrte er nicht mehr um. Er packte das Gerät mit der Hand, stöhnte - eine Mischung aus Qual, Selbstvorwurf, rauschhafter Erregung, himmlischer Erwartung.
Entschlossen und fest drückte er die Taste Nummer sieben.
9
Nichts in Miles Eastins bisheriger Erfahrung oder Phantasie hatte ihn vor seiner Einlieferung in die Strafanstalt von Drummonburg auf die gnadenlose, demütigende Hölle des Gefängnisses vorbereitet.
Sechs Monate waren jetzt seit der Aufdeckung seiner Unterschlagung und seines Diebstahls vergangen und vier Monate seit seinem Prozeß und seiner Verurteilung.
In seltenen Augenblicken, wenn er in der Lage war, trotz körperlichen Elends und seelischer Qual objektiv zu denken, sagte Miles Eastin sich, daß die Gesellschaft, sofern sie beabsichtigt hatte, wilde, barbarische Rache an Menschen wie ihm zu üben, diese Absicht in einem Maße verwirklicht habe, das weit über das Wissen jedes Menschen hinausging, der nicht selber das Fegefeuer des Gefängnisses durchlitten hatte. Und, so sagte er sich weiter, wenn es das Ziel einer solchen Strafe war, ein menschliches Wesen seiner Menschlichkeit zu berauben und es in ein Tier mit niedrigsten Instinkten zu verwandeln, dann war das Gefängnissystem der richtige Weg, das zu erreichen.
Aber eins erreichte es nicht und würde es auch nie erreichen, gestand Miles Eastin sich ein, nämlich, einen Menschen durch den Gefängnisaufenthalt zu einem besseren Mitglied der Gesellschaft zu machen, als er es bei seinem Einzug in den Kerker gewesen war. Zu welchem Strafmaß er auch verurteilt war, das Gefängnis konnte ihn nur demütigen und ihn schlechter machen, als er war; konnte nur seinen Haß auf »das System«, das ihn dorthin geschickt hatte, steigern; konnte nur die Möglichkeit verringern, daß aus ihm jemals ein nützlicher, die Gesetze achtender Bürger würde. Und je länger seine Strafe war, um so geringer war die Wahrscheinlichkeit einer moralischen Erlösung und Errettung.
So war es vor allem die Dauer des Gefängnisaufenthalts, die jedes Potential zu einer Besserung, das im Gefangenen bei seiner Ankunft noch vorhanden gewesen sein mochte, zersetzte und am Ende ganz zerstörte.
Und wenn ein einzelner sich einen Rest sittlicher Werte bewahrte, wenn er sich daran klammerte wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, dann geschah das aus seinen eigenen inneren Kräften heraus und nicht wegen, sondern trotz des Gefängnisses.
Miles kämpfte um ein wenig Halt, er rang darum, sich Spuren des Besten zu bewahren, das es vorher einmal in ihm gegeben hatte, er versuchte, nicht vollständig brutalisiert, total gefühllos, restlos verzweifelt und zutiefst verbittert zu werden. Es war so leicht, sich in dieses vierfache Gewand zu hüllen, in ein Nesselhemd, das der Mensch, der es einmal anzog, sein ganzes Leben lang tragen würde. Die meisten Gefangenen taten es. Es waren die, die entweder schon vor ihrer Ankunft brutalisiert worden waren und seither noch an Brutalität gewonnen hatten, oder die anderen, die die Zeit im Gefängnis zermürbt hatte; die Zeit und die kaltherzige Inhumanität der Bürger da draußen, gleichgültig gegenüber den Schrecken, die hinter diesen Mauern walteten, dem Anstand, der hier - immer im Namen der Gesellschaft - ausgerottet wurde wie ein Übel.
Im Unterschied zu den meisten gab es für Miles eine Chance, und sie beherrschte seine Gedanken, solange er sich noch über Wasser zu halten vermochte. Er war zu zwei Jahren verurteilt worden. Damit kam er in vier weiteren Monaten für eine Begnadigung in Frage.
Die Möglichkeit, daß ihm die Begnadigung nicht zuteil werden könnte, wagte er überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Was das bedeuten würde, war zu entsetzlich. Er glaubte nicht, daß er zwei Jahre im Gefängnis durchhalten konnte, ohne vollständig und für alle Zeiten an Geist und Körper unrettbar zerstört daraus hervorzugehen.
Durchhalten! rief er sich selbst am Tag und in den Nächten zu. Durchhalten in der Hoffnung auf die Erlösung, auf die Begnadigung!
Zu Anfang, nach der Festnahme und während der Untersuchungs haft vor dem Prozeß, hatte er gedacht, daß ihn das Eingeschlossensein in einem Gittergefängnis in den Wahnsinn treiben würde. Er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, daß Freiheit selten geschätzt wurde, solange man sie nicht eingebüßt hatte. Jetzt erkannte er den Wahrheitsgehalt dieses Ausspruchs, daß kein Mensch begreifen konnte, wieviel die physische Bewegungsfreiheit bedeutete - und sei es nur die Freiheit, von einem Zimmer ins andere oder ein paar Schritte vor die Tür gehen zu dürfen -, bis ihm selbst derartige Entscheidungsfreiheiten total verweigert wurden.
Dennoch war die Zeit vor dem Prozeß ein einziger Luxus, verglichen mit den Bedingungen, die in diesem Gefängnis herrschten.
Der Käfig, in dem er in Drummonburg eingesperrt war, hieß Zelle und hatte die Abmessungen 1,80 m mal 2,40 m. Sie bildete einen Teil eines in vier Schichten aufgetürmten, x-förmigen Zellenhauses. Als man das Gefängnis vor mehr als einem halben Jahrhundert baute, hatte man jede Zelle für eine Person vorgesehen; heute mußten die meisten Zellen wegen der Raumnot in den Gefängnissen vier Menschen aufnehmen. Das galt auch für Miles' Zelle. An den meisten Tagen waren die Gefangenen während achtzehn oder vierundzwanzig Stunden des Tages in diese winzigen Hohlräume eingeschlossen.
Bald nach der Ankunft von Miles waren sie wegen Unruhen in einem anderen Teil des Gefängnisses siebzehn ganze Tage und Nächte eingeschlossen geblieben - »Einschluß, Zellenspeisung« nannten die Behörden das. Nach der ersten Woche bedeuteten die verzweifelten Schreie von zwölfhundert nahezu um den Rest ihres Verstandes gebrachten Männern eine weitere Folter.
Die Zelle, in die Miles Eastin eingewiesen wurde, hatte vier an den Wänden befestigte Pritschen, ein Waschbecken und eine einzige Toilette ohne Sitz, die sich alle vier Insassen teilten. Wegen des geringen Wasserdrucks in den uralten, zerfressenen Rohren kam das - kalte - Wasser gewöhnlich nur in einem schwachen und dünnen Strahl aus dem Hahn; manchmal versiegte es völlig. Aus dem gleichen Grunde ließ sich die Toilette oft nicht spülen. Es war schlimm genug, in einen engen Raum eingeschlossen zu sein, in dem vier Männer sich vor den anderen und in Tuchfühlung mit ihnen entleeren mußten, aber dann noch lange hinterher in dem Gestank ausharren zu müssen, während man auf genügend Wasser wartete, um die Quelle des Gestanks endlich beseitigen zu können, das war ekelerregend und rief Brechreiz hervor.
Toilettenpapier und Seife reichten selbst bei größter Sparsamkeit nie aus.
Ein kurzes Duschbad wurde einmal in der Woche zugestanden; bis die Zeit wieder heran war, begannen die Leiber zu stinken und vergrößerten so das Elend in der engen Zelle. In den Duschräumen geschah es, in seiner zweiten Gefängniswoche, daß Miles von einer Gruppe vergewaltigt wurde. So schlimm andere Erlebnisse auch gewesen waren, dieses war das schlimmste.
Bald nach seiner Ankunft war ihm bewußt geworden, daß andere Gefangene sich sexuell von ihm angezogen fühlten. Gutes Aussehen und Jugend, das merkte er bald, waren in dieser Welt negative Attribute. Beim Marsch zum Essen oder beim Spaziergang auf dem Hof brachten die aggressivsten unter den Homosexuellen es fertig, sich um ihn zu drängen und sich an ihm zu reiben. Manche faßten ihn an und tasteten ihn ab; andere, aus der Entfernung, wölbten die Lippen und warfen ihm Kußhände zu. Den einen entzog er sich, die anderen ignorierte er, beides aber wurde immer schwieriger, und seine Nervosität wuchs, schlug in Angst um. Es wurde deutlich, daß nicht beteiligte Sträflinge ihm niemals helfen würden. Er spürte, daß Vollzugsbeamte, die zu ihm hinübersahen, wohl wußten, was da im Gange war. Aber es schien sie nur zu amüsieren.