Miles schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Dreckig.« Er fügte hinzu: »Vielen Dank für gestern.« Ihm war bewußt, daß der große Schwarze ihn vor dem Rapport gerettet hatte. Das hätte Bestrafung bedeutet - wahrscheinlich Tage im Loch - und einen Minuspunkt in seinen Begnadigungspapieren.
»Is' okay, Junge. Eins mußte wissen. Das eine Mal, gestern, genügt den Kerls nicht. Die sind jetzt wie Köter und du die läufige Hündin. Die sind bald wieder hinter dir her.«
»Was kann ich machen?« Hier wurde seine Angst bestätigt, und Miles' Stimme bebte. Er zitterte am ganzen Körper. Der andere betrachtete ihn mit erfahrenem Blick.
»Will dir mal sagen, wasde brauchst, Junge. 'n Beschützer. 'n Kerl, der auf dich aufpaßt. Wie wär's mit mir?«
»Aber warum solltest du?«
»Du entschließt dich und wirst mein fester Freund, und ich paß auf dich auf. Die anderen wissen, du und ich, wir gehn miteinander, und die legen keine Hand an dich. Die wissen genau, tunse dir was, kriegense's mit mir zu tun.« Karl ballte die Finger einer Hand zur Faust; sie hatte die Größe eines kleinen Schinkens.
Obwohl er die Antwort schon kannte, fragte Miles: »Und was willst du dann von mir?«
»Deinen hübschen weißen Arsch, Baby.« Der große Mann schloß die Augen und fuhr träumerisch fort: »Deinen Körper für mich allein. Immer, wenn ich ihn brauche. Wo? Das laß meine Sorge sein.«
Miles Eastin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
»Wie wär's mit uns, Baby? Was sagste dazu?«
Wie so oft schon dachte Miles in seiner Verzweiflung: Was vorher auch gewesen sein mag, kann jemand so etwas verdient haben?
Aber er war nun einmal hier. Und er hatte erfahren, daß das Gefängnis ein Dschungel war - verkommen und wild, ohne Gerechtigkeit -, wo der Mensch am Tage seiner Ankunft seine Menschenrechte verlor. Voller Bitterkeit sagte er: »Hab' ich denn eine Wahl?«
»Wenn du so willst, wohl nich'.« Eine Pause, dann ungeduldig: »Na, abgemacht?«
Ganz krank vor innerem Elend, sagte Miles: »Muß wohl.«
Erfreut legte Karl besitzergreifend einen Arm um die Schultern des anderen. Miles schrumpfte in sich zusammen, zwang sich aber mit äußerster Willenskraft dazu, nicht zurückzuweichen.
»Wir müssen dich verlegen lassen, Baby. In meinen Stock. Vielleicht in meine Bude.« Karls Zelle befand sich in einem niedrigeren Stock als die von Miles und lag in einem entgegengesetzten Flügel des x-förmigen Zellenhauses. Der große Mann leckte sich die Lippen. »O ja, Mann.« Schon begann die Hand, die auf Miles lag, zu wandern. »Haste Zaster?« fragte er.
»Nee.« Miles wußte, daß ein wenig Geld ihm das Leben schon erleichtert hätte, aber er besaß keins. Gefangene, die draußen Geld hatten und die das Geld auch nutzten, hatten weniger zu leiden als Gefangene, die nichts besaßen.
»Hab' auch keins«, vertraute Karl ihm an. »Muß mir wohl was einfallen lassen.«
Miles nickte trübe. Ihm wurde bewußt, daß er schon angefangen hatte, sich mit der schmachvollen Rolle der »Freundin« abzufinden. Aber er kannte die Regeln im Gefängnis, und er wußte, daß er sicher war, solange sein Arrangement mit Karl dauerte. Eine Massenvergewaltigung würde es nun nicht mehr geben.
Seine Annahme erwies sich als richtig.
Es gab keine Angriffe mehr, keinen Versuch, ihn zu tätscheln, keine zugeworfenen Kußhände mehr. Karl stand in dem Ruf, genau zu wissen, was er mit seinen gewaltigen Fäusten anfangen konnte. Es ging das Gerücht um, daß er vor einem Jahr einen Mitgefangenen, der ihn geärgert hatte, mit einem Klappmesser getötet habe; offiziell wurde der Mordfall nie geklärt.
Und Miles wurde verlegt, nicht nur in Karls Stockwerk, sondern in seine Zelle. Die Verlegung war offensichtlich das Resultat einer finanziellen Transaktion. Miles fragte Karl, wie er das geschafft habe.
Der große schwarze Mann lachte glucksend. »Die Jungs in der Mafiastraße haben den Zaster rausgerückt. Die mögen dich, Baby.«
»Mögen mich ?«
Wie die anderen Gefangenen auch, kannte Miles die Mafiastraße, die manchmal auch die italienische Kolonie genannt wurde. Das war ein Zellenabschnitt, in dem die Bosse des organisierten Verbrechens untergebracht waren, deren Kontakte mit der Außenwelt und deren Einfluß, wie einige behaupteten, ihnen den Respekt, ja, die Furcht sogar des Gefängnis-Gouverneurs eingebracht hatten. Ihre Privilegien in Drummonburg waren legendär.
Zu diesen Privilegien gehörten wichtige Ämter im Gefängnis, viel Bewegungsfreiheit und besseres Essen, das entweder von Vollzugsbeamten hereingeschmuggelt oder aus den allgemeinen Vorräten der Gefängnisküche gestohlen wurde. Die Bewohner der Mafiastraße verzehrten, wie Miles gehört hatte, oft Steaks und andere Herrlichkeiten, zubereitet auf verbotenen Grills in Werkstatt-Verstecken. Sie hatten auch manchen Komfort in ihren Zellen - Fernsehen zum Beispiel und Höhensonnen. Aber Miles selbst hatte nie Kontakt mit der Mafiastraße gehabt, noch hatte er geahnt, daß dort irgend jemand von seiner Existenz wußte.
»Die sagen, daß du die Schnauze halten kannst«, vertraute Karl ihm an.
Ein Teil des Rätsels wurde ein paar Tage später gelüftet, als ein wieseliger, schmerbäuchiger Gefangener namens LaRocca sich im Gefängnishof neben Miles schob. LaRocca gehörte zwar nicht zur Mafiastraße, aber er war ganz in ihrer Nähe untergebracht und fungierte als Kurier.
Er nickte Karl zu und erkannte damit dessen Besitzerrechte an, dann sagte er zu Miles: »Soll dir was sag'n von Ominsky dem Russen.«
Miles war aufgeschreckt und verstört. Igor Ominsky, genannt der Russe, war der Kredithai, dem er mehrere tausend Dollar geschuldet hatte - und noch schuldete. Ihm war auch klar, daß sich außerdem eine gewaltige Zinssumme angesammelt haben mußte.
Vor sechs Monaten hatten Ominskys Drohungen ihn bewogen, sechstausend Dollar Bargeld in der Bank zu stehlen. Danach waren dann seine früheren Unterschlagungen aufgedeckt worden.
»Ominsky weiß, daßde die Schnauze gehalt'n hast«, sagte LaRocca. »Das gefällt ihm. Für ihn biste 'n Kerl, der in Ordnung is'.«
Es stimmte. In den Verhören vor seinem Prozeß hatte Miles weder den Namen seines Buchmachers preisgegeben noch den Namen des Wucherers. Es waren die beiden Männer, vor denen er zur Zeit seiner Festnahme Angst hatte. Was ihm das Schweigen nützen sollte, schien damals nicht recht klar; vielleicht konnte es ihm auch erheblich schaden. Jedenfalls hatten sie ihn in diesem Punkt auch nicht sehr bedrängt, weder Wainwright, der Sicherheitschef der Bank, noch die Leute vom FBI.
»Weilde dichtgehalten hast«, sagte LaRocca jetzt zu ihm, »soll ich dir von Ominsky sag'n, dasser die Uhr angehalten hat, solange du im Knast sitzt.«
Miles wußte, was das bedeutete. Solange er seine Strafe absaß, sammelten sich keine neuen Schuldzinsen an. Er hatte mittlerweile genug über Kredithaie erfahren, um zu wissen, daß das ein gewaltiges Zugeständnis war. Die Nachricht, die ihm da überbracht wurde, war zugleich der Beweis dafür, daß die Mafiastraße mit ihrem glänzenden externen Informationsnetz genau über seine Existenz informiert war.
»Sag Mr. Ominsky vielen Dank«, sagte Miles. Er hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie er das Kapital, das er schuldete, nach seiner Entlassung zurückzahlen sollte; er wußte nicht einmal, wie er genug verdienen sollte, um davon leben zu können.
LaRocca sagte mit einem Kopfnicken: »Du wirst noch von ihnen hör'n, bevorde rauskommst. Vielleicht machen wir 'n Geschäft.« Mit einem neuen Kopfnicken, das Karl einbezog, schlüpfte er davon.
In den Wochen, die nun folgten, bekam Miles den wieseligen LaRocca öfter zu Gesicht. Im Gefängnishof suchte er mehrfach seine und Karls Gesellschaft. LaRocca und auch andere Gefangene waren geradezu fasziniert von dem, was Miles über die Geschichte des Geldes wußte. In gewisser Hinsicht war das, was einmal ein Hobby und ein besonderes Interessengebiet gewesen war, hier für Miles zu einem Mittel geworden, um sich jenen Respekt zu erwerben, den Gefängnisinsassen denen entgegenbringen, deren Lebensgeschichte und Verbrechen mit dem Gehirn zu tun haben und nicht nur mit Gewalt. In dieser Wertskala steht der kleine Straßenräuber am Fuße der Pyramide der Gefängnishierarchie, der Hochstapler und Betrüger nahe der Spitze.