Während sie aßen, schwatzte Estela, und Miles beantwortete ihre Fragen; ein Teil seiner anfänglichen Spannung schien von ihm abzufallen. Ein paarmal sah er sich in dem bescheiden eingerichteten, aber freundlichen Apartment um. Juanita hatte ein Talent dafür, sich nett einzurichten; nähen und dekorieren machte ihr Spaß. So hatte sie die alte, gebrauchte Bettcouch, die im Wohnzimmer stand, mit einem fröhlich weiß, rot und gelb gemusterten Baumwollstoff überzogen. Der Rohrstuhl, auf dem Miles vorher gesessen hatte, war einer von zweien, die sie billig erstanden und feuerrot angestrichen hatte. Für die Fenster hatte sie einfache, billige Vorhänge aus hellgelbem Stoff genäht. Ein naives Bild und mehrere Reiseposter schmückten die Wände.
Juanita hörte den beiden zu, sagte aber selbst kaum ein Wort; sie war immer noch von Zweifel und Argwohn erfüllt. Warum war Miles in Wahrheit gekommen? Wollte er ihr wieder neuen Kummer machen? Ihre Erfahrung sagte ihr, daß es so kommen könnte. Aber im Augenblick schien er harmlos zu sein -körperlich jedenfalls schwach, ein wenig verängstigt, möglicherweise besiegt. Juanita hatte genügend Menschenkenntnis, um diese Symptome zu erkennen.
Aber sie empfand keine Feindseligkeit gegen ihn. Miles hatte versucht, ihr die Schuld an einem Diebstahl zuzuschieben, den er selbst begangen hatte, aber seither war viel Zeit vergangen. Selbst damals, als seine Tat aufgedeckt wurde, hatte sie in erster Linie Erleichterung empfunden, nicht Haß. Jetzt wollte Juanita für sich und Estela nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden.
Miles Eastin seufzte, als er den Teller wegschob. Er hatte nichts darauf zurückgelassen. »Danke. Das war das schönste Essen seit langer Zeit.«
»Was werden Sie jetzt unternehmen?« fragte Juanita.
»Weiß nicht. Morgen fange ich an, mir einen Job zu suchen.« Er holte tief Luft und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber sie hob abwehrend die Hand.
»Estelita, vamos, amorcito. Ins Bett!«
Wenig später, gewaschen, gekämmt und in einem winzigen rosa Pyjama, erschien Estela, um gute Nacht zu sagen. Große, schimmernde Augen betrachteten Miles ernst. »Mein Daddy ist weggegangen. Gehst du auch weg?«
»Ja, schon bald.«
»Das hab' ich gedacht.« Sie hielt ihm das Gesicht chen zum Gutenachtkuß hin.
Nachdem sie Estela zu Bett gebracht hatte, machte Juanita die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu. Sie nahm Miles gegenüber Platz, die Hände im Schoß gefaltet. »So«, forderte sie ihn auf, »reden Sie.«
Er zögerte, befeuchtete die Lippen. Jetzt, wo der Augenblick gekommen war, schien er unentschlossen, der Worte nicht mächtig. Schließlich brachte er heraus: »Die ganze Zeit, seit sie mich... eingesperrt haben..., wollte ich sagen, daß es mir leid tut. Alles, was ich getan habe, tut mir leid, aber am meisten das, was ich Ihnen angetan habe. Ich schäme mich. Ich weiß beinahe nicht mehr, wie es passiert ist. Das heißt, ich weiß es schon...«
Juanita zuckte die Achseln. »Was geschehen ist, ist geschehen. Spielt es jetzt noch eine Rolle?«
»Für mich schon. Bitte, Juanita - ich möchte Ihnen erzählen,
wie es dazu kam.«
Dann, wie eine befreite Fontäne, sprudelten die Worte aus ihm heraus. Er sprach von seinem erwachten Gewissen, von seiner Reue, vom Wahnsinn des vergangenen Jahres mit Glücksspiel und Schulden, wie es ihn besessen hatte wie ein Fieber, das alle sittlichen Werte und jedes Urteil verzerrte. Wenn er jetzt zurückdachte, gestand er Juanita, dann war ihm, als hätte ein anderer von seinem Körper und Geist Besitz ergriffen. Er sprach offen von seiner Schuld, die Bank bestohlen zu haben. Am schlimmsten aber, schwor er, war das, was er ihr angetan hatte oder anzutun versucht hatte. Seine Scham darüber, erklärte er aufgewühlt, habe ihn jeden Tag im Gefängnis heimgesucht und werde nie mehr von ihm weichen.
Als Miles zu reden begann, hatte Juanita zunächst voller Argwohn zugehört. Er legte sich auch nicht gänzlich, während Miles fortfuhr; das Leben hatte sie zu oft getäuscht und um ihr Recht betrogen, als daß sie noch rückhaltlos an irgend etwas hätte glauben können. Doch sie glaubte aus seinen Worten herauszuhören, daß es ihm ernst mit dem Gesagten war, und ein Gefühl des Mitleids überwältigte sie.
Sie ertappte sich dabei, wie sie Miles mit Carlos verglich, dem Mann, der sie verlassen hatte. Carlos war schwach gewesen; Miles auch. Doch in gewisser Weise sprach Miles' Bereitschaft, zurückzukehren und ihr reuig gegenüberzutreten, für eine Stärke und Männlichkeit, die Carlos nie besessen hatte.
Plötzlich ging ihr das Komische der Sache auf: Beide Männer in ihrem Leben waren - aus welchem Grund auch immer - mit Makeln behaftet und wenig imponierend. Sie waren, wie sie selbst, Menschen, die im Leben zu kurz gekommen waren. Sie hätte beinahe gelacht, unterdrückte es aber, da Miles es nie verstehen würde.
»Juanita, ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er gerade ernst. »Können Sie mir verzeihen?«
Sie sah ihn an.
»Und wenn Sie es tun, wollen Sie es mir dann auch sagen?«
Das lautlose Lachen erstarb; Tränen stiegen ihr in die Augen. Das verstand sie. Sie war als Katholikin geboren, und wenn sie heutzutage auch wenig mit der Kirche zu tun hatte, so verstand sie doch die Tröstung der Beichte und der Absolution. Sie erhob sich.
»Miles«, sagte Juanita. »Stehen Sie auf. Sehen Sie mich an.«
Er gehorchte, und sie sagte mit sanfter Stimme: »Has sufrido bastante. Ja, ich verzeihe dir.«
Die Muskeln seines Gesichts zuckten und arbeiteten. Dann hielt sie ihn in den Armen, während er weinte.
Als Miles sich gefaßt hatte und sie wieder saßen, dachte Juanita an das im Augenblick Naheliegendste.
»Wo werden Sie heute nacht bleiben?«
»Ich weiß nicht. Ich finde schon was.«
Sie überlegte eine Weile, dann sagte sie entschlossen: »Sie können hierbleiben, wenn Sie wollen.« Als sie seine Überraschung sah, fügte sie rasch hinzu: »Sie können in diesem Zimmer schlafen, nur heute nacht. Ich werde mich im Schlafzimmer bei Estela einrichten. Unsere Tür wird verschlossen sein.« Sie wollte jedes Mißverständnis ausschalten.
»Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht«, sagte er, »dann würde ich gern bleiben. Und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Er sagte ihr nicht, aus welchem Grund sie in Wirklichkeit nichts zu fürchten hatte: Daß es andere Probleme für ihn gab -psychologische und sexuelle -, denen er sich noch nicht gestellt hatte. Miles wußte bisher nur, daß sein Verlangen nach Frauen sich in Nichts aufgelöst hatte wegen wiederholter homosexueller Beziehungen zwischen ihm und Karl, seinem Beschützer im Gefängnis. Er fragte sich, ob er jemals wieder ein Mann sein würde - in sexueller Hinsicht.
Wenig später, als sich bei ihnen beiden die Müdigkeit bemerkbar machte, verschwand Juanita im Nebenzimmer.
Am Morgen hörte sie durch die geschlossene Schlafzimmertür, wie Miles sich rührte. Als sie eine halbe Stunde später aus dem Schlafzimmer kam, war er nicht mehr da.
Ein Zettel lag auf dem Wohnzimmertisch.
Juanita -
danke aus ganzem Herzen
Miles
Während sie für sich und Estela das Frühstück machte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß sie sein Fortgehen bedauerte.
2
Seitdem ihm das Direktorium der FM A vor viereinhalb Monaten die Genehmigung für die Expansion der Sparabteilung und der Bankfilialen erteilt hatte, war Alex Vandervoort nicht müßig gewesen. Planungs- und Arbeitskonferenzen mit fremden Beratern und Unternehmern hatten fast täglich stattgefunden. Die Arbeit ging nachts, an Wochenenden und Feiertagen weiter, immer wieder angetrieben von Alex' Forderung, das Programm müsse vor Ende des Sommers starten und bis zur Herbstmitte auf vollen Touren laufen.