Wainwright fragte: »Sie haben wirklich Arbeit gesucht?«
»Ich war überall, wo vielleicht eine Chance bestand. Und wählerisch war ich nicht.«
In den drei Wochen seiner Suche hatte Miles ein einziges Mal fast eine Chance gehabt, als Küchenhilfe in einem drittklassigen, stets überfüllten italienischen Restaurant unterzukommen. Der Job war frei, und der Inhaber, ein Mann mit traurigem Windhundgesicht, war geneigt, ihn einzustellen. Aber als Miles seine Vorstrafe erwähnte, wozu er, wie er wußte, verpflichtet war, sah er, wie der andere einen raschen Blick zur Kassenlade warf, die ganz in der Nähe war. Selbst dann noch hatte der Restaurantbesitzer gezögert, aber seine Frau, ein Feldwebel in Frauenkleidern, entschied: »Nein! Wir können uns das Risiko nicht leisten.« Alle Bitten und Schwüre hatten nichts ausgerichtet.
Anderswo hatte sein Status als Bewährungs-Sträfling alle Hoffnungen noch schneller zunichte gemacht.
»Wenn ich etwas für Sie tun könnte, würde ich es vielleicht tun.« Wainwrights Ton war seit Beginn des Gesprächs milder geworden. »Aber ich kann's nicht. Hier gibt's nichts. Glauben Sie mir.«
Miles nickte bedrückt. »Im Grunde hab' ich das erwartet.«
»Was werden Sie nun als nächstes versuchen?«
Bevor er antworten konnte, kam die Sekretärin zurück und gab Wainwright eine Papiertüte und Wechselgeld. Als das Mädchen wieder gegangen war, nahm er die Milch und die Sandwiches heraus und legte alles auf den Tisch; Eastin sah zu und befeuchtete sich die Lippen.
»Sie können das hier essen, wenn Sie wollen.«
Miles bewegte sich rasch, mit hastigen Fingern wickelte er das erste Sandwich aus. Alle Zweifel über die Wahrheit seiner Aussage, daß er hungrig sei, verschwanden, als Wainwright zusah, wie die Nahrungsmittel schweigend, gierig verschlungen wurden. Und während der Sicherheitschef zusah, begann sich ein Gedanke in ihm zu bilden.
Am Ende trank Miles den letzten Schluck Milch aus einem Pappbecher und wischte sich die Lippen. Von den Sandwiches war keine Krume übriggeblieben.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Wainwright. »Was wollen Sie als nächstes unternehmen?«
Eastin zögerte merklich, dann sagte er tonlos: »Weiß nicht.«
»Ich glaube, Sie wissen es wohl. Und ich glaube, Sie lügen -zum ersten Mal, seit Sie hereingekommen sind.«
Miles Eastin zuckte die Achseln. »Spielt das noch eine Rolle?«
»Ich vermute folgendes«, sagte Wainwright, als ob er die Bemerkung nicht gehört hätte. »Bis jetzt haben Sie sich von den Leuten ferngehalten, die Sie im Gefängnis kennengelernt haben. Aber da Sie hier nichts erreicht haben, haben Sie beschlossen, zu ihnen zu gehen. Das Risiko, gesehen zu werden und die Bewährungsfrist zu verlieren, nehmen Sie auf sich.«
»Verdammt noch mal, was bleibt mir denn anderes übrig? Und wenn Sie das alles schon wissen, warum fragen Sie?«
»Sie haben also solche Verbindungen.«
»Wenn ich ja sage«, sagte Eastin verächtlich, »greifen Sie, wenn ich zur Tür raus bin, nach dem Telefon und rufen den Bewährungsausschuß an.«
»Nein.« Wainwright schüttelte den Kopf. »Was wir auch beschließen, ich verspreche Ihnen, das nicht zu tun.«
»Was meinen Sie damit: >Was wir auch beschließend^«:
»Wir könnten uns da eventuell auf was einigen. Wenn Sie bereit wären, ein gewisses Wagnis auf sich zu nehmen. Ein ziemlich großes sogar.«
»Was für ein Wagnis?«
»Lassen wir das vorerst. Wenn's nötig wird, kommen wir darauf zurück. Erzählen Sie mir erst mal von den Leuten, die Sie im Knast kennengelernt haben, und von denen, mit denen Sie jetzt Verbindung aufnehmen können.« Vorsicht und Mißtrauen hatten sich nicht gelegt; Wainwright spürte das und fügte hinzu: »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich - ohne Ihre Zustimmung -keinen Gebrauch von dem mache, was Sie mir sagen.«
»Woher soll ich wissen, daß es kein Trick ist - so, wie Sie mich schon mal reingelegt haben?«
»Das können Sie auch nicht wissen. Sie werden das Risiko eingehen müssen, mir zu vertrauen. Entweder das, oder Sie gehen und kommen nie wieder.«
Miles schwieg, dachte nach, feuchtete gelegentlich seine Lippen an. Dann begann er plötzlich, ohne zu erkennen zu geben, daß er sich entschieden hatte, zu erzählen.
Er schilderte, wie der Abgesandte von der Mafiastraße sich im Gefängnis Drummonburg zum ersten Mal an ihn herangemacht hatte. Die ihm übermittelte Nachricht, erklärte er Wainwright, war von draußen gekommen, von dem Wucherer, dem Kredithai Igor (»der Russe«) Ominsky, und sie besagte, daß er, Eastin, ein brauchbarer Kerl sei, weil er »die Schnauze gehalten« und bei seiner Verhaftung und auch später nicht die Identität des Hais und des Buchmachers verraten hatte. Als Zugeständnis würden deshalb die Zinsen für Eastins Darlehen während seiner Haftzeit ruhen. »Der Bote der Mafiastraße sagte, daß Ominsky die Uhr angehalten habe, solange ich im Knast bin.«
»Jetzt sind Sie aber nicht im Knast«, stellte Wainwright fest. »Die Uhr läuft also wieder.«
Miles machte ein sorgenvolles Gesicht. »Ja, ich weiß.« Das war ihm klar, und er bemühte sich, nicht daran zu denken, während er Arbeit suchte. Er war auch der Gegend ferngeblieben, wo er, wie man ihm gesagt hatte, Kontakt zu dem Wucherer Ominsky und anderen aufnehmen konnte. Es handelte sich um den Fitness-Club Doppelte Sieben, nicht weit vom Stadtzentrum; diese Mitteilung hatte ihn wenige Tage vor der Entlassung aus dem Gefängnis erreicht. Er wiederholte die Adresse, als Wainwright noch einmal nachfragte.
»Die Doppelte Sieben«, sagte der Sicherheitschef der Bank nachdenklich. »Ich kenne den Club nicht, aber ich habe davon gehört. Gilt als Ganoven-Treffpunkt.«
Noch etwas hatte man Miles in Drummonburg erzählt: Er werde, durch Kontakte, die man ihm vermitteln würde, Möglichkeiten finden, Geld zum Leben und zur Abzahlung seiner Schuld zu verdienen. Er hatte keines weiteren Hinweises bedurft, um zu begreifen, daß diese »Möglichkeiten« außerhalb der Legalität liegen würden. Dieses Wissen und seine Furcht vor einer Rückkehr ins Gefängnis hatten ihn einen entschlossenen Bogen um die Doppelte Sieben machen lassen. Bisher.
»Meine Vermutung war also richtig. Sie wären von hier aus dorthin gegangen.«
»O Gott, Mr. Wainwright, ich wollte es nicht! Ich will es immer noch nicht.«
»Vielleicht können wir hier, Sie und ich, einen Weg finden, der beides verbindet.«
»Wie?«
»Haben Sie schon mal von einem Tarnagenten gehört?«
Miles Eastin machte ein überraschtes Gesicht, bevor er zugab: »Ja.«
»Dann hören Sie genau zu.«
Wainwright begann zu sprechen.
Als der Sicherheitschef der Bank vor vier Monaten die aus dem Wasser gezogene, verstümmelte Leiche seines Spitzels Vic betrachtete, hatte er daran gezweifelt, daß er jemals wieder einen Agenten in den Untergrund schicken werde. Damals, schockiert und erfüllt von einem Gefühl persönlicher Schuld, hatte er gemeint, was er sagte, und er hatte seither auch nichts unternommen, um einen Ersatzmann anzuwerben. Aber diese Chance - Eastins Verzweiflung und seine maßgeschneiderten Verbindungen - war zu verheißungsvoll, als daß er sie ignorieren konnte.
Ebenso wichtig: Immer mehr gefälschte Keycharge Kreditkarten tauchten auf, es war wie eine Sintflut, während ihr Ursprung unentdeckt blieb. Konventionelle Methoden zum Aufspüren der Hersteller und Verteiler waren, wie Wainwright wußte, gescheitert; behindert wurden die Nachforschungen auch durch die Tatsache, daß die Fälschung von Kreditkarten nach geltendem Bundesgesetz kein strafrechtliches Vergehen war. Betrug mußte nachgewiesen werden; die Absicht, zu betrügen, reichte nicht aus. Aus allen diesen Gründen interessierten sich die Strafverfolgungsbehörden mehr für andere Formen der Fälschung; mit Kreditkarten befaßten sie sich nur im Zusammenhang mit anderen Fälschungsdelikten. Die Banken hatten - zum Kummer von Professionellen wie Nolan Wainwright - keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um daran etwas zu ändern.