Harry Harrison
Die Barbarenwelt
Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
HEYNE-BUCH Nr. 3136 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe Deathworld III
Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Printed in Germany 1969
1
Leutnant Talenc zog das Scherenfernrohr zu sich herab und stellte es auf größere Lichtstärke ein, um die beginnende Dämmerung zu kompensieren. Die grellweiße Sonne ging hinter einer gewaltigen Wolkenbank unter, aber das elektronische Fernrohr zeigte ein klares Bild der welligen Hochebene. Talenc fluchte leise vor sich hin, während er die Umgebung des Schiffs absuchte. Gras, überall nur mit Rauhreif bedecktes Gras, das sich im Wind bewegte. Sonst nichts.
„Tut mir leid, aber ich habe nichts gesehen, Sir“, meinte der Wachtposten zögernd. „Dort draußen sieht es immer gleich aus.“
„Nun, ich habe es gesehen — und das genügt. Irgend etwas hat sich bewegt, und ich will feststellen, was es war.“ Er sah auf die Uhr. „Noch eineinhalb Stunden, bis es dunkel wird.
Mehr als genug Zeit. Melden Sie dem Wachhabenden, wohin ich gegangen bin.“
Der andere schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber doch. Wie kam er dazu, Leutnant Talenc einen Rat zu geben?
Als sich das Tor im Elektrozaun öffnete, warf Talenc sich sein Lasergewehr über die Schulter, betastete prüfend die Handgranaten an seinem Gürtel und marschierte zuversichtlich auf die Ebene hinaus. Er war davon überzeugt, daß sich dort draußen nichts verborgen halten konnte, mit dem er nicht fertig würde.
Er hatte eine Bewegung gesehen, davon war er fest überzeugt. Es konnte ein Tier gewesen sein; es konnte irgend etwas gewesen sein. Sein Entschluß, dieser Sache auf den Grund zu gehen, beruhte nicht nur auf Neugier, sondern auch auf Pflichtgefühl. Er stapfte durchs Gras, das unter seinen Füßen knisterte, und drehte sich nur einmal nach dem Lager um. Eine Handvoll niedriger Gebäude und Zelte, über denen das Skelett eines Bohrturms und der massive Rumpf des Raumschiffs aufragten. Talenc war kein empfindsamer Mann, aber in diesem Augenblick wurde ihm doch klar, wie winzig ihr Lager im Verhältnis zu dieser bis zum Horizont reichenden Ebene war. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Wenn sich hier draußen etwas verborgen hielt, würde er es umbringen.
Hundert Meter vom Zaun entfernt befand sich die erste Senke, die vom Lager her nicht einzusehen war, weil eine leichte Erhebung die Sicht versperrte. Talenc erreichte den höchsten Punkt dieser Erhebung und starrte die Berittenen an, die in der Senke versammelt waren.
Er wich sofort zurück, aber er war nicht schnell genug. Der nächste Reiter stieß seine Lanze durch Talencs Wade und zerrte ihn zu sich herab. Talenc hob im Fallen sein Gewehr, aber eine zweite Lanze schlug es ihm aus der Hand und nagelte die Hand auf dem Boden fest. Alles war in wenigen Sekunden vorbei, und der Schock begann eben erst zu wirken, als Talenc nach seinem Sprechfunkgerät zu greifen versuchte. Aber die nächste Lanze machte diese Bewegung unmöglich.
Leutnant Talenc lag verwundet im Gras; er öffnete den Mund, um laut zu schreien, aber selbst das wurde ihm verwehrt. Der nächste Reiter beugte sich aus dem Sattel, holte mit seinem kurzen Säbel aus und brachte Talenc für immer zum Verstummen. Die Reiter sahen auf ihn herab und wandten sich dann ohne großes Interesse ab. Ihre Reittiere gaben ebenfalls keinen Laut von sich, obwohl sie sich unruhig bewegten.
„Was soll der Unsinn?“ fragte der Wachhabende und schnallte sich sein Koppel um.
„Leutnant Talenc ist dort draußen, Sir. Er hat eine Bewegung gesehen und wollte feststellen, worum es sich handelte. Ich habe ihn vor zehn Minuten aus den Augen verloren und kann ihn auch über Funk nicht mehr erreichen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, was ihm dort passiert sein soll“, murmelte der Offizier mit einem Blick auf die Ebene.
„Aber trotzdem… Sergeant!“ Der Mann trat vor und salutierte.
„Nehmen Sie eine Gruppe mit und suchen. Sie Leutnant Talenc.“
Die Männer waren Professionals, die auf einem neuen Planeten nur Schwierigkeiten erwarteten. Sie schwärmten in Schützenkette aus und bewegten sich vorsichtig über die Ebene.
„Was ist los?“ fragte der Metallurg, der mit einem Tablett voll Erzproben aus der Hütte unter dem Bohrturm trat.
„Keine Ahnung…“, antwortete der Offizier, als die Reiter aus der Senke auftauchten und in Richtung Lager galoppierten.
Es war erschreckend. Der Sergeant und seine Männer wurden überrannt und niedergemacht. Sie versuchten zu schießen, aber die Angreifer versteckten sich hinter ihren Tieren. Neun Leichen blieben zurück, und die Reiter waren kaum aufgehalten worden.
„Sie kommen hierher!“ rief der Metallurg, ließ sein Tablett fallen und rannte davon. Die Alarmsirene heulte auf, und die Wachmannschaften eilten zu ihren Posten.
Die Angreifer überfielen das Lager so überraschend, daß niemand sich darauf vorbereiten konnte; die Männer in der Nähe des Zauns starben, ohne ihre Warfen gehoben zu haben.
Die Reittiere der Fremden stampften auf Säulenbeinen heran, und das erste durchbrach den Zaun, wurde von der Hochspannung getötet und blieb vor dem Wachhabenden liegen. Er starrte es entsetzt an, aber in dieser Sekunde traf ihn der Reiter des Untiers mit einem Pfeil ins Auge, und er starb.
Der Überfall dauerte nur wenige Minuten. Die Reiter schossen selbst in der Dämmerung zielsicher. Männer sanken tot oder verwundet zu Boden. Dann verschwanden die Angreifer ebenso rasch, wie sie gekommen waren, und in dem entsetzten Schweigen, das nun entstand, war das Stöhnen der Verwundeten erschreckend laut.
Die beginnende Dunkelheit machte die allgemeine Verwirrung noch schlimmer. Als die Lampen aufleuchteten, waren überall zwischen den Gebäuden Tote, Sterbende und Verwundete zu sehen. Bardovy, der Kommandant der Expedition, gab seine Befehle durch einen Handlautsprecher.
Während Sanitäter sich um die Verwundeten kümmerten, wurden Granatwerfer in Stellung gebracht. Im Licht des großen Suchscheinwerfers waren die Reiter auf dem Hügelrücken zu erkennen, auf dem sie sich wieder versammelt hatten.
„Feuer!“ brüllte der Kommandant wütend. Seine Stimme ging im Donner der ersten Salve unter, der rasch die nächsten Einschläge folgten.
Noch ahnte niemand, daß der erste Angriff nur eine Finte gewesen war — die Masse der Angreifer kam aus entgegengesetzter Richtung. Erst als die Tiere unter ihnen waren, begannen sie zu verstehen. Aber dann war es zu spät.
„Schleusen dicht!“ befahl der wachhabende Pilot vom Kontrollturm aus. Er sah die Wellen der Angreifer vorbeifluten und wußte, wie langsam sich die Luken schlossen. Er drückte mehrmals auf die gleichen Knöpfe.
Die Angreifer durchbrachen den Elektrozaun. Die ersten starben und wurden von den nachfolgenden Tieren zertrampelt.
Auch einige Reiter starben, aber Tausende füllten dia Lücke, die ihr Tod hinterlassen hatte. Sie überwältigten das Lager, besetzten es, zerstörten es.
„Hier spricht Zweiter Offizier Weiks“, sagte die Stimme des Piloten aus allen Schiffslautsprechern. „Ist ein ranghöherer Offizier an Bord?“ Er wartete, und als er wieder sprach, klang seine Stimme heiser.
„Mannschaften und Offiziere melden sich jetzt. Sparks, Sie schreiben die Namen auf.“
Weiks schaltete die Heckkameras ein und beobachtete die Angreifer auf seinem Bildschirm.
„Siebzehn… nur siebzehn“, meldete der Funker ungläubig erstaunt und gab Weiks die Liste. Der Schiffsoffizier warf einen Blick darauf und griff langsam nach dem Mikrophon.
„Hier ist die Brücke“, sagte er. „Ich übernehme den Befehl.
Triebwerke startbereit machen.“