Jason versuchte eine Erklärung dafür zu finden und hatte noch keine gefunden, als sie vor dem großen schwarzen Camach hielten, in dem Temuchin residierte.
Dann fiel ihm ein, daß er die Verbindung zu Meta noch nicht überprüft hatte. Er schaltete den winzigen Sender ein, der in seinem Mund an einem oberen Backenzahn saß, und flüsterte fast unhörbar: „Wie hört ihr mich?“ Das Gerät war mit einem automatischen Lautstärkeregler ausgerüstet, so daß es keinen Unterschied machte, ob er flüsterte oder schrie.
„Laut und klar“, antwortete Metas Stimme in seinem Ohr.
Die Schallwellen wurden durch die Knochen ins Ohr übertragen.
„Vorwärts!“ brüllte Ahankk und schleppte Jason am Arm durch ein Spalier von bewaffneten Kriegern in das große Zelt.
Jason riß sich endlich los und ging allein auf den Mann zu, der in der Mitte des Camachs auf einem Thron saß. Zum Glück wandte Temuchin sich eben ab, um mit einem Offizier zu sprechen, sonst wäre ihm Jasons erstaunter Blick aufgefallen, mit dem dieser den Thron betrachtete, der aus einem Traktorensitz bestand.
Temuchin drehte sich wieder um und warf Jason einen prüfenden Blick zu. Der Jongleur verbeugte sich tief und hatte plötzlich das Gefühl, die Nasenpfropfen und der Bart seien doch eine recht kümmerliche Verkleidung. Jason richtete sich auf und stellte fest, daß Temuchin ihn noch immer anstarrte.
Wollte er angesprochen werden — oder war es falsch, in seiner Gegenwart ungefragt das Wort zu ergreifen?
„Du hast mich holen lassen, großer Temuchin. Ich fühle mich geehrt.“ Jason verbeugte sich nochmals. „lch soll für dich singen, nicht wahr?“
„Nein“, antwortete Temuchin eisig.
„Keine Lieder?“ fragte Jason erstaunt. „Was kann ein armer Wanderer dem Herrscher der Menschen sonst geben?“
„Auskünfte“, erklärte Temuchin ihm kurz. Im gleichen Augenblick summte das Dentiphon, und Metas Stimme sagte:
„Schwierigkeiten, Jason. Vor dem Zelt stehen Bewaffnete.
Wir sollen herauskommen, sonst bringen sie uns um.“
„Alle Jongleure lernen und lehren. Womit kann ich dienen?“
Dann flüsterte er: „Keine Pistolen! Wehrt euch — ich schicke Hilfe.“
„Was war das?“ Temuchin beugte sich drohend vor. „Was hast du geflüstert?“
„Nur… nur eine Angewohnheit, mächtiger Herrscher. Ich wiederhole meine Lieder, damit ich sie nicht vergesse.“
Temuchin lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. Er schien nicht viel von Leuten zu halten, die während einer Audienz Lieder aufsagten. Jason hielt ebenfalls nichts davon.
Aber wie sollte er Meta und Grif helfen?
„Die Männer brechen ein!“ flüsterte ihre Stimme in seinem Ohr.
„Erzähl mir von den Pyrranern“, forderte Temuchin ihn auf.
Jason begann zu schwitzen. Temuchin hatte offenbar überall seine Spione — oder Shanin hatte davon erzählt. Und inzwischen waren die Verwandten des Toten über Meta und Grif hergefallen. „Die Pyrraner? Sie sind ein Stamm wie jeder andere. Was willst du über sie wissen?“
„Was?“ Temuchin sprang auf und zog sein Schwert. „Wagst du es, mir Fragen zu stellen?“
„Jason!“
„Nein, nein!“ Jason spürte, daß ihm jetzt der Schweiß noch heftiger ausbrach. „Ich habe mich nur versprochen. Ich wollte nur wissen, was du erfahren möchtest. Ich erzähle dir gern alles, was ich weiß.“
„Viele Männer mit Schwertern und Schildern. Sie greifen nur Grif an.“
„Ich habe noch nie von diesem Stamm gehört. Wo hat er seine Weidegründe?“
„Im Norden… in den Bergen, in abgeschiedenen Tälern, weißt du…“
„Grif ist zu Boden gegangen. Ich kann mich nicht allein gegen alle zur Wehr setzen.“
„Was soll das heißen? Was verbirgst du vor mir? Offenbar kennst du Temuchins Gesetz nicht. Belohnungen für jeden, der auf meiner Seite steht. Den Tod für alle, die gegen mich kämpfen. Den langsamen Tod für jene, die mich verraten.“
„Den langsamen Tod“, wiederholte Jason nachdenklich. Er war im Augenblick um Worte verlegen. Draußen waren Schritte und Getrampel von Moropen zu hören. „Hast du das gehört? War das nicht ein Pfiff?“
„Bist du verrückt geworden?“ fragte Temuchin unwillig.
„Es war ein Pfiff“, beteuerte Jason und näherte sich dem Ausgang. „Ich muß einen Augenblick hinausgehen. Ich komme gleich wieder zurück.“
Die anwesenden Offiziere und die Soldaten der Leibwache waren nicht weniger verblüfft als Temuchin. Bisher war noch niemand auf die Idee gekommen, den Camach des Herrschers auf diese Weise zu verlassen.
„Ein Augenblick genügt.“
„Halt!“ brüllte Temuchin, aber Jason hatte das Zelt bereits verlassen. Der Posten am Eingang zog sein Schwert, aber Jason stieß ihn zur Seite und trat ins Freie. Jason bog eben um die nächste Ecke, als die ersten Verfolger auftauchten. Er hörte ihre Schreie hinter sich, rannte kreuz und quer durchs Lager, bis er die Verfolger abgeschüttelt hatte, die in falscher Richtung weiterliefen, und kehrte zu Temuchins Camach zurück. Der Häuptling ging wütend auf und ab und nahm nur undeutlich wahr, daß jemand hereingekommen war.
„Ha!“ rief er. „Habt ihr ihn endlich… du!“ Er trat zurück und zog blitzschnell das Schwert.
„Ich bin dein treuer Diener, Temuchin“, versicherte Jason ihm ruhig. „Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, daß nicht alle Stämme deinem Gesetz gehorchen.“
Temuchin ließ das Schwert nicht sinken — aber er schlug auch nicht zu.
„Sprich rasch! Der Tod ist dir sonst sicher.“
„Ich weiß, das du Fehden zwischen deinen Dienern verboten hast. Trotzdem sind heute Männer in mein Zelt eingedrungen, um meine Dienerin zu töten, die einen Mann getötet hat, von dem sie angegriffen wurde. Ein Vertrauter Hat mir diese Nachricht gebracht; da er nicht wagte, Temuchins Camach zu betreten, hat er draußen gepfiffen. Ich habe eben mit ihm gesprochen. Kann ich wie jeder treue Diener mit deinem Schutz rechnen?“
Hinter Jason ertönten Schritte, dann stürmten die Verfolger herein und blieben wie versteinert stehen, als sie Temuchin mit dem Schwert in der Hand vor Jason sahen. Der Häuptling ließ sein Schwert sinken.
„Ahankk!“ brüllte er. „Nimm vier Hände Männer und leite zu Shanin vom Stamm der Ratten, um…“
„Ich kann ihm den Camach zeigen“, warf Jason ein.
Temuchin drehte sich nach ihm um und starrte ihn wütend an. „Noch ein Wort, dann bist du tot.“
Jason nickte nur; er wußte, daß er zu leichtsinnig gewesen war. Temuchin wandte sich wieder an seinen ersten Befehlshaber.
„Reite zu Shanin und befiehl ihm, dich zu denen zu führen, die in Abwesenheit des Jongleurs seine Diener überfallen haben. Bringe alle Überlebenden hierher.“
Ahankk salutierte, als er hinauslief; Temuchin legte mehr Wert auf Gehorsam als auf Höflichkeit.
Temuchin ging mit gerunzelter Stirn in seinem Camach auf und ab, und die Offiziere und Soldaten zogen sich möglichst an die Wände zurück. Nur Jason blieb unbeweglich stehen — selbst als der wütende Mann vor ihm stand und ihm mit der Faust drohte.
„Warum lasse ich das alles mit mir geschehen?“ fragte Temuchin zornig. „Warum eigentlich?“
„Darf ich antworten?“ erkundigte Jason sich vorsichtig.
„Sprich!“ brüllte Temuchin aufgebracht.
„Ich habe Temuchins Gegenwart verlassen, weil dies der einzige Weg war, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.
Dazu war ich nur imstande durch eine Tatsache, die ich dir bisher noch vorenthalten habe.“
Temuchin äußerte sich nicht dazu.
„Jongleure gehören keinem Stamm an und besitzen kein Totem. Das ist recht so, denn sie sollen wandern können, ohne sich einem Stamm verpflichtet zu fühlen. Aber ich muß dir gestehen, daß ich als Pyrraner geboren wurde. Meine Stammesgenossen haben mich ausgestoßen — deshalb bin ich ein Jongleur geworden.“