Man brauchte kein technisches Genie zu sein, um zu erkennen, welchem Zweck die ganze Apparatur diente. Jason wandte sich an Temuchin und erkundigte sich: „Lassen wir uns mit diesem Mechanismus ins Tiefland abseilen?“
Der Kriegsherr schien ebenfalls nicht allzuviel von der Maschine zu halten.
„Allerdings. Normalerweise würde ich mein Leben lieber anderswo riskieren, aber wir haben keine andere Wahl. Der Stamm, dessen Angehörige diese Maschine erbaut und betrieben haben — übrigens ein Zweig des Wieselstamms —, hat mir versichert, daß Überfälle auf die Tiefländer nur mit Hilfe dieses Ungetüms möglich sind. Die Überlebenden sind hier und bedienen das Ding. Sie werden hingerichtet, falls es Schwierigkeiten gibt. Wir lassen uns zuerst abseilen.“
„Das hilft uns nicht viel, wenn etwas schiefgeht.“
„Der Mensch wird geboren, um zu sterben. Das Leben ist nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen.“
Dazu konnte Jason sich nicht mehr äußern. Er hob den Kopf, als einige Männer und Frauen herangetrieben wurden.
„Tretet zurück und laßt sie arbeiten“, befahl Temuchin, und die Soldaten zogen sich zurück. „Beobachtet sie genau. Wer etwas falsch macht, wird auf der Stelle getötet “
Die Gefangenen machten sich nach dieser kleinen Aufmunterung an die Arbeit. Sie schienen ihre Sache zu verstehen. Einige von ihnen drehten die große Kurbel; andere stellten die klappernden Sperrklinken ein. Ein Mann kletterte sogar auf den Rahmen hinaus, um das Rad an der Spitze zu schmieren.
„Ich zuerst“, entschied Temuchin und legte das schwere Brustgeschirr aus Leder an. Er wandte sich an Jason. „Du folgst mir, nachdem du mein Morope nach unten geschickt hast. Binde ihm die Augen zu, damit es nicht ängstlich wird.
Nach dir kommt wieder ein Morope.“ Er sah zu den Offizieren hinüber. „Ihr wißt, was ihr zu tun habt.“
Die Wiesel begannen ihren eintönigen Sprechgesang, während sie die Kurbel drehten und das Seil auf die Trommel wickelten. Unter Zug gab es nach und dehnte sich, bevor Temuchin in die Luft gehoben wurde. Dann hing er über dem Abgrund und wurde langsam hinabgelassen, sobald die Schwingungen abgeklungen waren. Jason trat an die Klippe vor und sah Temuchin nach, bis er in den Wolken verschwunden war.
Das Seil war etwa alle hundert Meter zusammengeknotet, Und die Männer an der Winde arbeiteten vorsichtiger, wenn einer dieser Knoten erschien. Sobald er über das Rad hinweggeglitten war, kurbelten sie wieder schneller. Die Männer und Frauen wechselten sich an der Kurbel ab, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, so daß das Seil sehr gleichmäßig auslief.
„Woraus besteht das Seil?“ fragte Jason einen Wiesel, der die Arbeit zu überwachen schien.
„Pflanzen, lange Pflanzen mit Blättern — wir nennen sia Mentri…“
„Ranken?“ vermutete Jason.
„Ja, Ranken. Groß, schwer zu finden. Wachsen an der Klippe. Sie dehnen sich und sind stark.“
„Hoffentlich“, murmelte Jason und griff nach dem Arm des anderen, als das Seil plötzlich wie verrückt auf und ab tanzte.
Der Mann machte eine abwehrende Handbewegung.
„Schon gut. Das bedeutet, daß der Mann unten ist. Das Seil bewegt sich dann. Einholen!“ befahl er seinen Leuten.
Jason ließ den Mann los, der sich den Arm rieb. Die Erklärung klang vernünftig; das Seil mußte sich bewegen, wenn Temuchins Gewicht plötzlich nicht mehr daran zog.
Allerdings konnte sein Körpergewicht nicht viel ausmachen, denn das Seil selbst mußte erheblich mehr wiegen.
„Jetzt das Morope“, verlangte Jason und deutete auf Temuchins Reittier, das mißtrauisch die Klippe beäugte. Die Wiesel zogen ihm einen Sack über den Kopf und banden ihm ein ledernes Traggeschirr um. Das Morope ließ alles geduldig über sich ergehen, bis es spürte, daß es den Boden unter den Füßen verlor; in diesem Augenblick wurde es unruhig und schlug aus. Der Mann, mit dem Jason gesprochen hatte, griff nach einem Hammer mit langem Stiel, rannte auf das Tier zu und traf den Sack an einer Stelle, die zwischen den Augen des Tieres lag, das nun bewegungslos in seinem Traggeschirr hing.
Die Männer an der Winde mußten sich anstrengen, um dieses Gewicht über den Abgrund zu hieven.
„Gerade richtig getroffen“, stellte der Mann fest. „Trifft man zu fest, ist er tot. Trifft man nicht fest genug, wacht es zu früh auf und reißt das Seil ab.“
Alles schien zu klappen, und das Seil wurde langsam nachgelassen. Jason döste im Stehen und trat etwas weiter vom Abgrund zurück. Er wachte auf, als die Männer aufgeregt schrien, weil das Seil diesmal so starke Bewegungen ausführte, daß es sogar aus der Rolle sprang.
„Ist es gerissen?“ erkundigte Jason sich.
„Nein, alles in Ordnung. Das Morope ist eben gelandet.“
Jason nickte und sah zu, wie einer der Männer auf den Rahmen kletterte, um das Seil wieder in die Rolle zu legen.
Dann fiel ihm ein, daß er als nächster an der Reihe war. Er hätte viel dafür gegeben, sich diesem Fahrstuhl nicht anvertrauen zu müssen.
Es begann erschreckend genug. Als sich das elastische Seil über ihm spannte, versuchte er auf dem festen Boden zu bleiben — ohne Erfolg. Das Seil schwankte wild, und Jason warf einen Blick in die Tiefe. Dann hob er rasch wieder den Kopf, sah die Gesichter der Nomaden verschwinden und war plötzlich über dem Wolkenmeer, das unter ihm gegen die gewaltige Felswand zu branden schien.
Jason erkannte nun auch, daß die Stelle, an der die Winde angebracht war, erheblich tiefer als andere Punkte am Rand der Klippe lag. Er vermutete, daß der Boden unter ihm im Gegensatz zum übrigen Tiefland deutlich erhöht lag, denn das Seil durfte nicht beliebig lang sein, wenn es außer seinem eigenen Gewicht noch eine Last tragen sollte. Die Wolken kamen langsam näher, bis er das Gefühl hatte, sie mit den Zehenspitzen berühren zu können. Wenige Sekunden später hüllte ihn dichter Nebel ein, und er versank in einem grauen Nichts.
Jason hätte nie geglaubt, daß er am Ende eines kilometerlangen Seils einschlafen könnte, aber die gleichmäßige Bewegung, seine Müdigkeit und das graue Nichts, das ihn umgab, wirkten einschläfernd. Er ließ den Kopf sinken und begann wenig später zu schnarchen.
Er wachte auf, als es ihm in den Hals regnete. Die Luft war hier unten erheblich wärmer, aber Jason fror trotzdem. Vor seinem Gesicht zog langsam die Felswand vorüber, und als er nach unten sah, glaubte er dort eine Bewegung zu erkennen.
Was? Menschen? Freund oder Feind? Er zog seine Streitaxt aus dem Gürtel und hielt sie vorsichtshalber in der Hand. Nun waren bereits einzelne Felsen zu erkennen, die aus dem Gras aufragten. Die Luft war feucht und stickig.
„Mach dich zum Loslassen bereit“, wies Temuchin ihn an, der zwischen den Felsen auftauchte. „Was soll die Axt?“
„Ich wußte nicht, wer mich hier erwarten würde“, erklärte Jason ihm, steckte die Axt in den Gürtel und löste das Brustgeschirr. Als das Seil sich in diesem Augenblick dehnte, war er nur noch einen Meter vom Boden entfernt.
„Loslassen!“ befahl Temuchin, und Jason folgte — leider erst, als das Seil bereits wieder zurückschnellte. Er schwebte einen Augenblick lang in der Luft und fiel dann aus drei Meter Höhe zu Boden. Der Schwertknauf bohrte sich schmerzhaft in seine Rippen, aber er war nicht ernstlich verletzt. Das Seil schnellte zurück und verschwand in den Wolken.
„Hierher“, sagte Temuchin und ging voraus, während Jason sich aufraffte. Das Gras war rutschig, und er wäre fast wieder gefallen. Temuchin blieb vor einem großen Felsen stehen und deutete nach oben.