Wütende Schreie hinter ihm zeigten, daß seine Verfolger nicht viel von seiner Flucht hielten. Bisher hatte er seinen Vorsprung halten können, aber er fragte sich, wie lange ihm das noch glücken würde.
Eines der Zelte vor ihm wurde geöffnet, und ein grauhaariger Mann warf einen Blick ins Freie — der gleiche Mann, der Jason zuvor Fragen gestellt hatte. Er schien sofort zu erfassen, was sich ereignete, und winkte Jason zu sich heran. Nun war ein rascher Entschluß fällig. Jason sah sich um, erkannte keine Verfolger hinter sich und schlüpfte ins Zelt.
Dann fiel ihm auf, daß er noch immer das Messer in der Hand trug. Er setzte es dem Alten auf die Brust.
„Keinen Laut, sonst bist du tot!“ zischte er.
„Warum sollte ich dich verraten?“ fragte der andere. „Ich habe dich selbst hereingeholt Ich riskiere alles, um mehr zu lernen. Zurück, damit ich den Eingang verschließen kann!“
Jason sah sich rasch in dem dunklen Zelt um und erkannte den schläfrigen jungen Mann wieder, der vor einem kleinen Feuer hockte. Ober dem Feuer hing ein Topf, in dem eine runzlige Alte herumrührte. Die beiden schienen gar nicht gemerkt zu haben, was sich am Eingang abspielte.
„Zurück!“ drängte der Mann und stieß Jason von sich fort.
„Sie sind bald hier. Aber sie dürfen dich nicht finden.“
Draußen ertönten jetzt Schreie, und Jason hielt den Plan des Alten für vernünftig. Er ließ sich möglichst weit vom Eingang entfernt nieder und erhob keine Einwände, als der Alte ihm einige Felle umhängte, ihm eine Pelzkappe aufsetzte, deren herabhängender Schirm sein Gesicht halb verdeckte, und ihm eine übelriechende Tonpfeife zwischen die Zahne schob.
Weder die alte Frau noch der junge Mann achteten auf ihn.
Die beiden sahen nicht einmal auf, als ein Krieger das Zelt öffnete und den Kopf ins Innere steckte. Der Eindringling sah sich um und brüllte eine Frage. Der Alte mit dem grauen Bart grunzte verneinend — und das war alles. Der Krieger verschwand, und die Alte watschelte zum Eingang, um ihn wieder zu verschließen.
Jason dinAlt hatte im Laufe seines Lebens gelernt, nie auf selbstlose Wohltätigkeit zu vertrauen. Deshalb hielt er das Messer noch immer stoßbereit. „Warum hast du mir geholfen?“ erkundigte er sich mißtrauisch.
„Ein Jongleur riskiert alles, um zu lernen“, antwortete Graubart und ließ sich am Feuer nieder. „Ich stehe über den kleinlichen Zwistigkeiten der Stämme. Ich heiße Oraiel, und du nennst am besten gleich deinen Namen.“
„Riverboat Sara“, erwiderte Jason und legte das Messer lange genug fort, um das Oberteil seines Anzugs nochzuziehen und seine Arme in die Ärmel zu stecken. Er log instinktiv, obwohl keine Bedrohung sichtbar war. Die Alte rührte in ihrem Kessel; der junge Mann hockte hinter Oraiel. „Von welcher Welt kommst du?“
„Himmel.“
„Gibt es viele bewohnte Welten?“
„Mindestens dreißigtausend, obwohl niemand die genaue Zahl angeben kann.“
„Wie sieht es auf deiner Welt aus?“ Jason runzelte die Stirn.
Ihm war eingefallen, daß er noch weit davon entfernt war, mit heiler Haut aus dieser Falle zu entkommen.
„Wie sieht es auf deiner Welt aus, Alter?“ erkundigte er sich deshalb. „Ich tausche Informationen gegen Informationen.“
Oraiel warf ihm einen forschenden Blick zu und nickte langsam. „Einverstanden. Ich beantworte deine Fragen, wenn du meine beantwortest.“
„Gut, aber du beantwortest zuerst meine, weil ich mehr zu verlieren habe, falls wir unterbrochen werden. Bevor wir unser Frage-und-Antwort-Spiel beginnen, muß ich zunächst Inventur machen. Dazu war ich bisher zu beschäftigt.“
Jason stellte fest, daß die Krieger gute Arbeit geleistet hatten. Nur sein Medikasten war ihnen entgangen, als sie ihn durchsuchten; offenbar hatte er darauf gelegen. Und das Funkgerät! In der Dunkelheit hatten sie den flachen Behälter unter seiner Achsel übersehen. Das Funkgerät besaß keine große Reichweite, aber vielleicht konnte er trotzdem mit der Pugnücious in Verbindung treten und Hilfe…
Er holte es aus der Tasche und starrte trübselig das zertrümmerte Gehäuse an, in dem es hörbar klapperte.
Irgendwann mußte ihn genau an dieser Stelle ein Schlag getroffen haben. Er schaltete das Gerät ein — nichts, nicht einmal ein Rauschen.
Die Tatsache, daß sein Chronometer, das an der Innenseite des Gürtels befestigt war, die genaue Zeit anzeigte, tröstete ihn wenig. Es war zehn Uhr morgens. Das Chronometer war nach der Landung auf den 20-Stunden-Tag von Felicity umgestellt worden.
Jason machte es sich am Feuer gemütlich und deckte sich mit Fellen zu. „Schön, jetzt können wir anfangen, Oraiel. Wer ist der Boß hier, der meine Hinrichtung befohlen hat?“
„Er ist Temuchin der Krieger, der Furchtlose, der Stählerne Arm, der Zerstörer, der…“
„Schon verstanden. Er gibt hier also den Ton an. Was hat er gegen Fremde — und Gebäude?“
„Das erklärt das ›Lied der Freien‹ am besten“, antwortete Oraiel und gab seinem Lehrling einen Stoß. Der junge Mann grunzte, raffte sich auf und brachte eine Art Laute mit zwei Saiten zum Vorschein, auf der er sich selbst begleitete, während er mit hoher Stimme sang:
So ging es endlos weiter, bis Jason einzunicken drohte. Er unterbrach schließlich den jungen Mann und stellte Oraiel einige Fragen. Allmählich erfuhr er, wie die Menschen auf dieser Hochebene lebten.
Von den Meeren in Ost und West und von der Großen Klippe im Süden bis zu den Bergen im Norden gab es keine einzige ständige Ansiedlung von Menschen. Die Nomadenstämme wanderten frei und ziellos über die Ebene, befehdeten einander und verbündeten sich gelegentlich gegen gemeinsame Feinde.
Früher hatte es hier Städte gegeben, denn aus dieser Zeit stammte der Haß der Nomaden gegen alles, was an feste Plätze erinnerte. Auf dieser Hochebene gab es nur Raum für Seßhafte oder Nomaden, und die Nomaden waren in erbitterten Kämpfen Sieger geblieben. Sie hatten so gründliche Arbeit geleistet, daß keine Spur ihrer Feinde zurückgeblieben war.
Die Barbaren zogen in Stämmen und Clans über die Ebene, blieben, wo es ihnen gefiel, und zogen weiter, wenn ihr Vieh keine Nahrung mehr fand. Die Jongleure, die als einzige überall willkommen waren, schlossen sich einzelnen Stämmen an und waren Sänger, Alleinunterhalter, Hofnarren und Nachrichtenübermittler zugleich. In diesem Klima gediehen keine Bäume mehr, so daß Werkzeuge und andere Gegenstände aus Holz unbekannt waren. Im Norden wurden Kohle und Eisenerz abgebaut, die zur Stahlgewinnung dienten.
Gekocht wurde über getrocknetem Dung; Tierfett füllte die Lampen. Das Leben war meistens häßlich und kurz.
Jeder Stamm besaß traditionelle Weidegründe, deren Grenzen jedoch nie genau festgelegt worden waren, so daß es ihretwegen ständige Kämpfe gab. Die halbkugelförmigen Zelte, die Camachs, bestanden aus zusammengenähten Fellen, die über Eisenstangen gezogen wurden. Wenn der Stamm sein Lager abbrach, wurden die Camachs und andere Haushaltsgegenstände auf niedrige Wagen, Escungs, verladen, die von Moropen gezogen wurden. Die Moropen waren im Gegensatz zu Rindern und Ziegen einheimische Pflanzenfresser; sie konnten bis zu zwanzig Tage ohne Wasser auskommen, ertrugen die Kälte auf der Hochebene gut und dienten ihren Besitzern als Zug- und Reittiere.
Mehr gab es eigentlich nicht zu erzählen. Die Stämme wanderten und kämpften, jeder sprach seinen eigenen Dialekt und gebrauchte die Zwischensprache nur, wenn eine Unterhaltung mit Fremden unumgänglich war. Die Stämme verbündeten sich und brachen ihre Bündnisse wieder, wenn sie sich davon Vorteile versprachen. Ihr Lebenswerk war der Krieg, den sie in jeder Phase beherrschten.