Hendricks verlangsamte seine Geschwindigkeit. Er hob sein Fernglas und studierte das vor ihnen liegende Gebiet. Befanden sie sich dort, irgendwo dort vor ihnen, und warteten schon auf sie? Beobachteten sie, genau auf die Art, wie seine Leute den russischen Kurier beobachtet hatten? Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Vielleicht entsicherten sie soeben ihre Gewehre und bereiteten sich auf den Schuß vor, genauso, wie sich seine Männer vorbereitet, zum Töten fertiggemacht hatten.
Hendricks blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Verdammt." Ihm war unbehaglich zumute. Aber man würde ihn doch gewiß erwarten. Dies war eine völlig andere Situation.
Er schlurfte durch die Asche und hielt sein Gewehr mit beiden Händen umklammert. David folgte ihm. Hendricks blickte sich um und preßte die Lippen zusammen. Jede Sekunde konnte es passieren. Eine Explosion aus weißem Licht, ein Feuerblitz, der zielbewußt aus dem Innern eines tiefen Betonbunkers auf sie geschleudert wurde.
Er hob einen Arm und beschrieb damit einen Kreis.
Nichts rührte sich. Rechts von ihm zog sich ein langer Erdwall dahin, bedeckt mit toten Baumstämmen. Einige wilde Weinstöcke waren neben den Bäumen in die Höhe geschossen, die letzten Überbleibsel der Weinberge. Und das allgegenwärtige dunkle Unkraut. Hendricks musterte den Erdwall. Lauerte dort irgend jemand? Dies war ein hervorragender Ort für einen Beobachtungsposten. Vorsichtig näherte er sich dem Wall, während David ihm leise folgte. Hätte er hier das Kommando, er hätte dort oben einen Posten aufgestellt, um nach Truppen Ausschau zu halten, die vielleicht versuchen mochten, in das Kommandogebiet einzusickern. Natürlich, wenn dieses Gebiet unter seinem Befehl stände, dann wären auch hier die Klauen und würde vollen Schutz garantieren.
Er verharrte, die Beine gespreizt, die Hand am Gewehrabzug.
„Sind wir da?" fragte David.
„Fast."
„Warum haben wir angehalten?"
„Ich will kein Risiko eingehen." Hendricks rückte langsam vor. Nun lag der Wall direkt neben ihm, zog sich rechts von ihm dahin. Überragte ihn. Sein unbehagliches Gefühl wurde stärker. Wenn sich dort oben ein Iwan befand, hatte er keine Chance. Wieder winkte er. Sie mußten eigentlich jemand in der UN-Uniform erwarten, als Antwort auf die Nachrichtenkapsel. Andernfalls war die ganze Sache eine Falle.
„Bleib bei mir", wandte er sich an David. „Bleib nicht hinter mir zurück."
„Bei Ihnen?"
„Komm zu mir! Wir müssen zusammenbleiben. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Komm schon."
„Mit mir ist alles in Ordnung." David blieb hinter ihm, in seinem Rücken, ein paar Schritte entfernt, und er umklammerte noch immer seinen Teddybär.
„Mach, was du willst." Hendricks hob wieder das Fernglas, fühlte mit einem Mal Erregung. Für einen Augenblick - hatte sich da nicht etwas bewegt? Sorgfältig suchte er den Wall ab. Alles war still. Tot. Dort oben gab es nichts Lebendiges, nur Baumstümpfe und Asche. Vielleicht einige Ratten. Die großen schwarzen Ratten, die die Klauen überlebt hatten. Mutanten - die sich ihre eigenen Bunker aus Speichel und Asche bauten. Eine Art Mörtel. Anpassung. Er bewegte sich nun weiter.
Eine hochgewachsene Gestalt erschien über ihm auf dem Erdwall, und ihr Mantel flackerte im Wind. Graugrün. Ein Russe. Hinter ihm erschien ein zweiter Soldat, ein weiterer Russe. Beide hoben ihre Waffen und zielten.
Hendricks fror. Er öffnete den Mund. Die Soldaten knieten, zielten schräg den Hang hinunter. Eine dritte Gestalt war zu ihnen gestoßen, eine kleinere Gestalt in Graugrün. Eine Frau. Sie stand hinter den beiden Männern.
Hendricks gewann seine Stimme zurück. „Halt!" Er winkte ihnen freundlich zu. „Ich bin..."
Die beiden Russen schossen. Hinter Hendricks ertönte der gedämpfte Knall einer Explosion. Hitzewellen leckten nach ihm, und er warf sich zu Boden. Asche wehte ihm ins Gesicht, brannte in den Augen und in der Nase. Würgend kam er auf die Knie. Alles war eine Falle. Er war am Ende.
Er war gekommen, um getötet zu werden, wie ein Mastochse. Die Soldaten und die Frau kletterten die Böschung hinunter, näherten sich ihm, rutschten über die weiche Asche. Hendricks war wie betäubt. In seinem Kopf pochte Schmerz. Unbeholfen riß er sein Gewehr hoch und zielte. Es wog tausend Tonnen; er konnte es nur mit Mühe halten. Seine Nase und die Wangen brannten. Die Luft roch nach Explosion, ein bitterer, ätzender Gestank.
„Schießen Sie nicht", rief der erste Russe in holprigem, akzentbeladenem Englisch.
Die drei kamen auf ihn zu und umringten ihn. „Nehmen Sie die Waffe 'runter, Yankie", befahl der andere.
Hendricks war benommen. Alles war so schnell gegangen. Man hatte ihn gefangen. Und sie hatten den Jungen ausgelöscht. Er drehte den Kopf. David war verschwunden. Was von ihm übriggeblieben war, lag verstreut am Boden.
Die drei Russen betrachteten ihn voller Neugier. Hendricks saß da, wischte das Blut von seiner Nase und wühlte in den Ascheflocken. Er schüttelte den Kopf, versuchte klar zu denken. „Warum haben Sie das getan?" murmelte er undeutlich. „Dieser Junge... "
„Warum?" Einer der Soldaten zerrte ihn unsanft vorwärts. „Schauen Sie. Beeilen Sie sich. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren, Yankie!"
Hendricks sah es sich an. Und keuchte.
„Sehen Sie jetzt? Verstehen Sie jetzt?"
Aus Davids Überresten rollte ein Metallrädchen hervor. Relais, blinkendes Metall. Röhren, Drähte. Einer der Russen trat gegen den Haufen und weitere Einzelteile fielen heraus und rollten davon, Rädchen und Federn und Drähte. Ein Plastikteil, halb verkohlt. Hendricks bückte sich zitternd. Er entdeckte den Vorderkopf und sah das eingebaute Gehirn, Drähte und Relais, dünne Röhren und Schaltungen, Tausende von winzigen Teilen...
„Ein Roboter", sagte der Soldat, der ihn am Arm festhielt. „Wir haben beobachtet, wie er sich an Sie gehängt hat."
„An mich gehängt?"
„Das ist ihre Art. Sie hängen sich an einem an. Bis zum Bunker. So gelangen sie hinein."
Hendricks blinzelte betäubt. „Aber..."
„Kommen Sie." Sie führten ihn zum Erdwall. „Wir können hier nicht bleiben. Es ist unsicheres Gelände. Es muß hier in der Nähe Hunderte von ihnen geben."
Die drei schoben ihn den Hang hinauf, und sie rutschten und stolperten durch die Asche. Die Frau erreichte den Kamm und blieb dort wartend stehen.
„Der Vorposten", murmelte Hendricks. „Ich bin gekommen, um mit der Sowjetregierung zu verhandeln..."
„Es gibt keinen Vorposten mehr. Sie sind eingedrungen. Wir werden es Ihnen erklären." Sie erreichten den Kamm des Walls. „Wir allein haben überlebt. Wir drei. Der Rest hielt sich unten im Bunker auf."
„Hier. Hier hinunter." Die Frau hob einen Deckel, der ein graues Einstiegloch verbarg, das tief in den Boden führte. „Hinein."
Hendricks kletterte nach unten. Die beiden Soldaten und die Frau folgten ihm, hangelten sich an der Leiter hinunter. Die Frau schloß über ihnen die Luke und verriegelte sie sorgfältig.
„Gut, daß wir Sie gesehen haben", bemerkte einer der beiden Soldaten. „Der Roboter hätte sich fast mit Erfolg an Sie angehängt."
„Geben Sie mir eine von Ihren Zigaretten", bat die Frau. „Ich habe seit Wochen keine amerikanischen Zigaretten mehr geraucht."
Hendricks warf ihr die Packung zu. Sie nahm eine Zigarette heraus und reichte die Packung an die beiden Soldaten weiter. In einer Ecke des kleinen Raumes glühte flackernd eine Lampe. Die Decke war niedrig, der Raum eng. Die vier saßen um einen kleinen Holztisch. Einige schmutzige Töpfe waren an einer Wand aufgestapelt. Hinter einem vermoderten Vorhang lag ein zweiter Raum. Hendricks entdeckte den Zipfel eines Mantels, einige Decken, Kleidung hing an einem Haken.
„Wir waren hier", erklärte der Soldat, der neben ihm saß. Er nahm seinen Helm ab und strich sein blondes Haar zurück. „Ich bin Korporal Rudi Maxer. Pole. Seit zwei Jahren in der sowjetischen Armee." Er streckte ihm die Hand entgegen.