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„Ich bin darüber informiert", versicherte er. Genau das hatte er auch vermutet.

„Viel Glück und danke, daß Sie uns sofort angerufen haben", erklärten beide Polizisten und wandten sich ab. Trotz ihrer Beflissenheit schien der Fall sie nicht sehr zu berühren; offensichtlich gehörten derartige Dinge zur Routine.

Der Laborbefund wurde ihm sehr schnell mitgeteilt - das war vor allem überraschend aufgrund der Tatsache, daß die staatliche Bürokratie normalerweise sehr schwerfällig arbeitete. Der Befund wurde ihm per Videofon mitgeteilt, noch ehe der Führer seine Fernsehrede beendet hatte.

„Es handelt sich dabei nicht um ein Halluzinogen", informierte ihn der Labortechniker der Gepol.

„Nein?" fragte er verwirrt und keineswegs erleichtert.

„Im Gegenteil. Es ist ein Phenothiazin, das, wie Sie zweifellos wissen, ein Anti-Halluzinogen ist. Eine ziemlich große toxische Konzentration pro Gramm ist zwar vorhanden, doch dürfte das Präparat keinen großen Schaden anrichten. Vermutlich senkt es Ihren Blutdruck oder macht Sie müde. Es wurde wahrscheinlich während des Krieges aus einem medizinischen Vorratslager gestohlen, das die Barbaren bei ihrem Rückzug aufgegeben haben. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen."

Nachdenklich legte Chien mit bedächtigen Bewegungen den Hörer des Videofons auf. Und dann trat er an das Fenster seines Konap - an jenes Fenster, das ihm eine hübsche Aussicht auf die anderen hoch emporragenden Konaps von Hanoi bot -, um nachzudenken.

Die Türglocke läutete. Wie in Trance schritt er durch das

teppichausgelegte Wohnzimmer, um zu öffnen.

Vor ihm stand ein Mädchen in einem hellen Regenmantel, und sie hatte ihre dunklen, glänzenden langen Haare unter einer Babuschka verborgen. „Ah, Genosse Chien?" fragte sie im schüchternen, leisen Tonfall. „Tung Chien? Vom Ministerium für..."

Er ließ sie wie automatisch herein und schloß die Wohnungstür. „Sie haben mein Videofon abgehört", erklärte er; es war ein Schuß ins Blaue, aber eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er recht hatte mit seiner Vermutung.

„Haben sie... haben sie den Rest des Schnupftabaks mitgenommen?" Sie blickte zu ihm auf. „Oh. hoffentlich nicht; heutzutage ist so schwer daranzukommen."

„Schnupftabak", erwiderte er, „ist leicht erhältlich. Im Gegensatz zu Phenothiazin. Das meinen Sie doch, oder?"

Das Mädchen hob den Kopf, musterte ihn mit ihren großen, dunklen Augen. „Ja, Mr. Chien..." Sie zögerte und wirkte so unsicher wie die Polizisten selbstbewußt gewesen waren. „Sagen Sie mir, was Sie gesehen haben; es ist für uns von höchster Wichtigkeit, dies zu wissen."

„Wollen Sie damit andeuten, daß ich eine Wahl gehabt habe?" fragte er scharf.

„J-ja, gewiß. Das hat uns auch so sehr verwirrt; wir haben uns etwas ganz anderes vorgestellt. Wir verstehen es einfach nicht; alle Theorien haben versagt." Ihre Augen wirkten jetzt noch dunkler und tiefgründiger, und sie erkundigte sich: „Besaß es die Gestalt des Meeresungeheuers? Das schleimige Ding mit den Zähnen, diese außerirdische Lebensform? Bitte, sagen Sie es mir; wir müssen es erfahren." Sie atmete schwer, angestrengt, und über ihrer Brust hob und senkte sich der Regenmantel; er bemerkte, wie er fasziniert den Rhythmus verfolgte.

„Eine Maschine", erklärte er.

„Oh!" Sie senkte den Kopf, nickte heftig. „Ja, ich verstehe;

ein mechanischer Organismus, der in keiner Weise an einen Menschen erinnert. Kein Simulacrum, das einen Menschen darstellen soll."

Er sagte: „Dieses Ding sah tatsächlich nicht wie ein Mensch aus." Und in Gedanken fügte er hinzu: Es redete auch nicht wie wir, versuchte es nicht einmal.

„Sie begreifen, daß dies keine Halluzination war?"

„Man hat mir offiziell bestätigt, daß das Mittel, das ich genommen habe, ein Phenothiazin war. Mehr weiß ich nicht." Er sagte so wenig wie möglich; er wollte nicht reden, sondern zuhören. Er wollte hören, was das Mädchen zu sagen hatte.

„Nun, Mr. Chien..." Sie holte tief Atem. „Wenn es keine Halluzination war, was war es dann? Was bleibt übrig? War es das, was man eine ,übersinnliche Wahrnehmung' nennt? Was meinen Sie?"

Er antwortete nicht; er wandte ihr den Rücken zu, nahm gemächlich die beiden Prüfungsarbeiten der Studenten zur Hand, überflog den Text und ignorierte sie. Wartete auf ihren nächsten Versuch.

Sie beugte sich über seine Schulter, und sie roch nach Frühlingsregen, süß und anregend, und sie roch so gut wie sie aussah und wie sie sprach. So ganz anders als die barschen, gespreizten Worte, die man im Fernseher hörte - die er gehört hatte, seit er ein Baby gewesen war.

„Einige von denen", sagte sie heiser, „die das Stelazin genommen haben - es war Stelazin, Mr. Chien - sehen die eine Inkarnation, andere eine andere. Aber es haben sich bestimmte Kategorien herausgeschält; es gibt keine endlose Vielfalt. Einige sehen das, was Sie gesehen haben; wir nennen es den Klapperer. Einige erblicken das Meerungeheuer; das ist der Schlinger. Und dann gibt es noch den Vogel und die Kletterröhre und..." Sie verstummte. „Aber die Reaktionen der anderen Leute dürften für Sie wenig be deuten. Und auch für uns." Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: „Jetzt, wo Sie es selbst erlebt haben, Mr. Chien, würden wir uns freuen, wenn Sie unserer Vereinigung beitreten würden. Schließen Sie sich jener Gruppe an, deren Mitglieder das gleiche Bild wie Sie gesehen haben, der Gruppe Rot. Wir wollen herausfinden, was es wirklich ist, und..." Sie zuckte die Achseln. „Es kann doch nicht gleichzeitig in all diesen Gestalten auftreten." Ihre Stimme klang ergreifend in ihrer Naivität. Er fühlte, wie seine Vorsicht nachließ, nebensächlich wurde.

„Was haben Sie gesehen?" fragte er. „Sie persönlich?"

„Ich gehöre zur Gruppe Gelb. Ich... ich habe einen Sturm gesehen. Einen heulenden, bösartigen Wirbelwind. Der alles entwurzelt und Kondominium-Apartments zerstört, die für Jahrhunderte erbaut wurden." Sie lächelte mühsam. „Der Zerstörer. Insgesamt gibt es zwölf Gruppen, Mr. Chien. Zwölf absolut unterschiedliche Erfahrungen unter dem Einfluß desselben Phenothiazin-Präparats, während der Führer im Fernsehen eine seiner Reden hielt. Oder eher: als dieses Ding sprach." Sie lächelte ihn an, breit und sehr lange -dehnte das Lächeln vermutlich künstlich aus - und ihr Blick war einfühlsam, fast vertrauend. Als ob sie glaubte, daß er etwas unternehmen konnte, was ihr verwehrt blieb.

„Ich sollte Sie an sich verhaften lassen", bemerkte er schließlich.

„Es gibt kein Gesetz, das unser Handeln verbieten könnte. Wir haben sorgfältig das Sowjetrecht studiert, bevor wir... bevor wir Leute gesucht haben, die das Stelazin verteilen sollten. Wir besitzen nicht sehr viel von diesem Mittel; wir müssen sehr darauf achten, wem wir es geben. Sie erschienen uns eine gute Wahl zu sein... ein bekannter, nach dem Kriege geborener junger Karrierist auf dein Weg nach oben." Sie nahm ihm die Prüfungsunterlagen aus der Hand. „Hat man Ihnen Pol-Lek verordnet?" erkundigte sie sich.

„Pol-Lek?" Er kannte den Ausdruck nicht.

„Das bedeutet, man bekommt etwas Geschriebenes oder Gesagtes zum Studium, um zu überprüfen, ob es mit den weltanschaulichen Grundsätzen der Partei übereinstimmt. Auf Ihrer hierarchischen Position ist nur von ,Lektüre' die Rede, nicht wahr?" Erneut lächelte sie ihn an. „Wenn Sie eine Stufe höher steigen, auf die Ebene von Mr. Tso-pin, dann werden Sie diesen Ausdruck kennenlernen." Mit düsterem Gesicht fügte sie hinzu: „So wie Mr. Pethel. Er steht sehr weit oben, Mr. Chien; es gibt in San Fernando keine ideologische Akademie. Was man Ihnen übergeben hat, sind gefälschte Prüfungsarbeiten, die dazu dienen, Ihre politische Ideologie zu überprüfen. Haben Sie schon herausgefunden, welche Arbeit orthodox und welche häretisch ist?" Ihre Stimme klang jetzt sehr fein, schien von leiser, boshafter Ironie geprägt. „Wenn Sie sich irren, dann wird Ihre steile Karriere plötzlich zu Ende, für alle Zeiten vorüber sein. Erkennen Sie jedoch die Wahrheit... "