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„Wissen Sie, welcher Aufsatz der richtige ist?" fragte er.

„Ja", nickte sie gelassen. „Wir haben in Mr. Tso-pins Büro eine Abhöranlage eingebaut und sein Gespräch mit Mr. Pethel verfolgt - der in Wirklichkeit nicht Mr. Pethel, sondern der Hohe Gepol-Inspektor Judd Craine ist. Vermutlich haben Sie schon von ihm gehört; er war 1998 während des Kriegsverbrecherprozesses in Zürich der Erste Assistent von Richter Vorlawsky."

„Ich... verstehe", brachte er mühsam hervor. Nun, das erklärte einiges.

„Ich heiße Tanya Lee", sagte das Mädchen.

Er schwieg, nickte lediglich und war zu verwirrt, um irgend etwas darauf zu erwidern.

„Rein technisch gesehen bin ich nur eine kleine Sekretärin in Ihrem Ministerium", fuhr Miss Lee fort. „Jedenfalls sind wir uns noch nie begegnet, soweit ich mich erinnern kann. Wir versuchen, alle Stellen zu besetzen, die wir bekommen können. Und versuchen so hoch wie möglich aufzusteigen. Mein eigener Chef... "

„Halten Sie es für richtig, daß Sie mir all das erzählen?" Er deutete auf den Fernseher, der noch immer eingeschaltet war. „Wird unser Gespräch nicht aufgezeichnet?"

„Wir blockieren die optische und akustische Übertragung aus diesem Apartmentgebäude mit einem Störsender; sie werden mindestens eine Stunde benötigen, um den Fehler zu finden. Demnach haben wir noch" - sie warf einen Blick auf die kleine Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk -„fünfzehn Minuten, in denen wir uns ungestört unterhalten können."

„Sagen Sie mir", bat er, „welche Arbeit orthodox ist."

„Sie machen sich deswegen Sorgen? Wirklich?"

„Worüber", entgegnete er, „sollte ich mir denn sonst Sorgen machen?"

„Verstehen Sie denn nicht, Mr. Chien? Sie haben doch soeben etwas gelernt. Der Führer ist nicht der Führer; er ist etwas anderes, aber wir wissen nicht, was er ist. Noch nicht. Mr. Chien, mit allem Respekt, aber haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Trinkwasser analysieren zu lassen? Bitte, lachen Sie mich nicht aus. Ich weiß, das Ansinnen klingt paranoid, aber haben Sie wirklich schon einmal daran gedacht?"

„Nein", erklärte er. „Natürlich nicht." Und er wußte, was sie jetzt sagen würde.

„Unsere Untersuchungen", fuhr Miss Lee mit harter Stimme fort, „haben ergeben, daß es mit Halluzinogenen versetzt ist. Es war versetzt, ist versetzt und wird auch in Zukunft mit Drogen versetzt sein. Nicht mit jenen Drogen, die während des Krieges benutzt wurden, nicht mit diesen desorientierenden Präparaten, sondern mit einem synthetischen Derivat einer mutterkornähnlichen Substanz namens

Datrox-3. Sie trinken es hier im Gebäude, wenn Sie morgens aufstehen; Sie trinken es in den Restaurants und in den anderen Apartments, in denen Sie zu Besuch sind. Sie trinken es im Ministerium; das ganze Trinkwasser stammt schließlich aus demselben zentralen Reservoir." Ihre Stimme klang jetzt rauh und grausam. „Wir haben das Problem gelöst; wir wußten, sobald wir die Analyse in Händen hatten, daß jedes gute Phenothiazin die Wirkung aufheben würde. Was wir natürlich nicht wußten war, daß es eine Vielzahl authentischer Erlebnisse gab; rational betrachtet ergibt das keinen Sinn. Die Halluzination müßte von Mensch zu Mensch verschieden und die realen Erlebnisse müßten alle identisch sein - aber es ist genau umgekehrt. Wir können noch nicht einmal eine vorläufige Theorie aufstellen, die das erklärt, und Gott weiß, wie sehr wir uns darum bemüht haben. Zwölf unterschiedliche Halluzinationen - das wäre leicht zu verstehen. Aber nicht eine Halluzination und zwölf Wirklichkeiten." Dann schwieg sie einen Moment und studierte stirnrunzelnd die beiden Aufsätze. „Die Arbeit, die das arabische Gedicht enthält, ist orthodox", erklärte sie. „Wenn Sie ihnen das sagen, wird man Ihnen vertrauen und Sie befördern. Dann werden Sie eine weitere Stufe in der Parteibürokratie erklommen haben." Lächlend - ihre Zähne waren makellos und wohlgeformt - schloß sie: „Da sehen Sie, was Sie für Ihre Investition am heutigen Morgen alles bekommen haben. Für die nächste Zeit ist Ihre Karriere gesichert. Wir haben dafür gesorgt."

„Ich glaube Ihnen einfach nicht", erklärte er. Instinktiv hatte sich seine alte Vorsicht wieder bemerkbar gemacht, die Vorsicht, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte und noch gewachsen war, seit er mit den intrigierenden Mitgliedern der KP Ost, Sektion Hanoi, zusammenarbeitete. Es gab genug Möglichkeiten, einen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen - und einige davon hatte er selbst schon benutzt; andere waren bei ihm oder bei Bekannten angewendet worden. Vielleicht war dies hier eine neue Methode, die er noch nicht kannte. Alles war möglich.

„Heute abend", bemerkte Miss Lee, „hat der Führer Sie in seiner Rede direkt angesprochen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor? Ausgerechnet Sie, wo es so viele Menschen gibt? Sie, ein kleiner Bürovorsteher in einem unwichtigen Ministerium...?"

„Zugegeben", fiel er ihr ins Wort. „Ja, das ist mir aufgefallen."

„Aber es ist nicht ungewöhnlich. Seine Hoheit ist dabei, sich einen ausgewählten Kader junger, nach dem Krieg geborener Männer aufzubauen, von denen er hofft, daß sie neues Leben in die verknöcherte, verkalkte Hierarchie der alten Säcke und Parteiveteranen bringen. Seine Hoheit hat Sie aus dem gleichen Grunde wie wir ausgewählt; wenn Sie es klug anstellen, können Sie im Lauf Ihrer Karriere bis zur Spitze vorstoßen. Zumindest für einige Zeit... soweit wir wissen. So funktioniert das."

Er dachte: Also hat jeder Vertrauen zu mir. Nur ich selbst nicht; und vor allem jetzt nicht mehr, nicht nach diesem Erlebnis mit dem antihalluzinogenen Zeug. Es hat Jahre des Vertrauens ausgelöscht, und zweifellos war das auch richtig.

Aber zumindest wußte er nun, was er zu tun hatte; zunächst schwankte er noch, aber dann war er völlig sicher.

Er trat ans Videofon, hob den Hörer und begann - zum zweitenmal in dieser Nacht - die Nummer der Geheimpolizei von Hanoi zu wählen.

„Mich verhaften zu lassen", erklärte Miss Lee, „wäre der zweitschlimmste Fehler, den Sie machen könnten. Ich werde ihnen einfach sagen, daß Sie mich hierherbestellt haben, um mich zu bestechen; ich werde behaupten, Sie hätten gedacht, daß ich aufgrund meiner Stellung beim Ministerium darüber informiert wäre, welche Prüfungsarbeit die richtige ist."

„Und was wäre mein schlimmster Fehler?" fragte er.

„Keine weitere Dosis Phenothiazin zu nehmen", entgegnete Miss Lee gelassen.

Tung Chien legte den Hörer auf und dachte: Ich verstehe nicht mehr, was mit mir geschieht. Zwei verschiedene Kräfte, die Partei und Seine Hoheit auf der einen und dieses Mädchen mit ihrer angeblichen Gruppe auf der anderen Seite, versuchen mich zu beeinflussen. Die eine will mich so hoch wie möglich in die Parteihierarchie katapultieren; und die andere - ja, was wollte Tanya Lee? Aus ihren Worten ging hervor, daß sie die Partei, den Führer, die ethischen Grundsätze der Vereinigten Demokratischen Volksfront verachtete - was wollte sie also von ihm?

Neugierig fragte er: „Sind Sie gegen die Partei?"

„Nein."

„Aber..." Er machte eine verwirrte Bewegung. „Aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht; entweder ist man für oder gegen die Partei. Also sind Sie für die Partei." Noch immer verwirrt starrte er sie an; gelassen erwiderte sie den Blick. „Hinter Ihnen steht eine Organisation", bemerkte er, „und Sie treffen sich mit Ihren Leuten. Was wollen Sie zerstören? Die Funktionsfähigkeit der Regierung? Verfolgen Sie die gleichen Ziele wie diese verräterischen Collegestudenten der Vereinigten Staaten während des Vietnamkrieges, die Truppentransporter blockierten, demonstrierten... "