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Wie beim erstenmal, so war auch bei diesem Päckchen das Papier beschriftet, doch diesmal, erkannte er, war es ein handschriftlicher Text. Er stammte zweifellos von Miss Lee:

Wir waren von der plötzlichen Entscheidung überrascht. Aber Gott sei Dank waren wir mit allem fertig. Wo haben Sie Dienstag und Mittwoch gesteckt? Hier ist es jedenfalls, und viel Glück. Ich werde Sie am Wochenende aufsuchen; versuchen Sie nicht von sich aus, mit mir Kontakt aufzunehmen.

Er setzte die Notiz in Brand und ließ sie im Aschenbecher des Wagens verkohlen.

Und nahm die dunklen Körner.

Die ganze Zeit schon, dachte er. Halluzinogene in unserem Trinkwasser. Jahr für Jahr. Jahrzehntelang. Und nicht im Krieg, sondern im Frieden. Und nicht im feindlichen Lager, sondern bei uns. Dieser verdammte Bastard, fluchte er im stillen. Vielleicht sollte ich das Zeug wirklich nehmen; vielleicht sollte ich wirklich herauszufinden versuchen, wer oder was er ist und dann Tanyas Gruppe darüber informieren.

Und ich werde es tun, entschied er. Mit einem Mal hatte ihn die Neugier gepackt.

Ein gefährliches Gefühl, wie er wußte. Neugier war, vor allem in den Parteiangelegenheiten, für jede Karriere lebensgefährlich.

Von diesem Augenblick an war er der Neugierde verfallen. Er fragte sich, ob die Wirkung des Mittels den ganzen Abend lang anhalten würde, falls er sich tatsächlich dazu entschied, es zu nehmen.

Die Zeit würde es erweisen. Dies und alles andere. Wir sind die Menschenwunden in der Ebene, kam es ihm in den Sinn, die Wunden, die er schlägt. Wie es in dem arabischen Gedicht steht. Er versuchte sich an die restlichen Zeilen zu erinnern, aber es gelang ihm nicht.

Möglicherweise war es auch besser so.

Der Protokollbeamte der Villa, ein Japaner namens Kimo Okubara, ein großer und kräftiger Mann und offenbar ein ehemaliger Quondam-Ringer, empfing ihn mit berufsmäßiger Feindseligkeit, die auch nicht wich, nachdem er ihm seine gravierte Einladung vorgelegt und seine Identität nachgewiesen hatte.

„Ich bin überrascht, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, hierher zu kommen", brummte Okubara. „Warum sind Sie nicht zu Hause vor dem Fernsehschirm geblieben? Niemand hätte Sie hier vermißt. Bis jetzt sind wir auch ohne Sie hervorragend zurechtgekommen."

„Ich habe mir schon oft die Fernsehübertragungen ange sehen", erklärte Chien nachdrücklich. Obwohl die Abendgesellschaften selten per Fernsehen übertragen wurden; sie waren einfach zu obszön.

Okubaras Untergebene durchsuchten ihn nach Waffen, und diese Untersuchung schloß auch den Analbereich ein. Anschließend erhielt er seine Kleidung zurück. Jedenfalls hatten sie das Phenothiazin nicht gefunden - weil er es bereits genommen hatte. Die Wirkung derartiger Drogen hielt, soweit er wußte, ungefähr vier Stunden an; das war mehr als genug Zeit. Und, wie Tanya angedeutet hatte, war es eine größere Dosis. Er fühlte sich müde, schlapp und deprimiert, und seine Zunge verkrampfte sich wie die eines Menschen, der an der Parkinsonschen Krankheit litt - ein unerfreulicher Nebeneffekt, den er allerdings hinnehmen mußte.

Ein Mädchen, von der Hüfte aufwärts nackt, mit langen, kupferfarbenen Haaren, die über ihre Schultern hingen, spazierte an ihm vorbei. Interessant.

Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich ein splitternacktes Mädchen. Auch das war interessant. Beide Mädchen wirkten desinteressiert und gelangweilt und vollkommen selbstbewußt.

„Sie werden ebenfalls in dieser Aufmachung hineingehen", wurde Chien von Okubara informiert.

Überrascht entgegnete Chien: „Ich dachte, Frack und weiße Binde seien vorgeschrieben."

„Ein Witz", erklärte Okubara. „Auf Ihre Kosten. Nur die Mädchen laufen nackt herum. Solange Sie nicht homosexuell sind, können Sie das auch, wenn es Ihnen Spaß macht."

Nun, dachte Chien, ich hätte etwas Derartiges erwarten sollen. Er mischte sich unter die anderen Gäste - wie er trugen sie Frack und Binde oder, die Frauen, bodenlange Abendkleider - und fühlte sich mit einem Mal unwohl, trotz der beruhigenden Wirkung des Stelazins. Warum bin ich hier? fragte er sich. Die Unvereinbarkeit seiner Absichten entging ihm keineswegs. Er war hier, um seine Karriere innerhalb des Parteiapparates voranzutreiben, um von Seiner Hoheit ein zustimmendes, aufmunterndes Nicken zu erhalten... und gleichzeitig war er hier, um Seine Hoheit als Betrüger zu entlarven. Er wußte nicht, um welche Art von Betrug es sich handelte, doch es war einer: Betrug an der Partei, an allen friedliebenden, demokratisch gesinnten Menschen der Erde. Es ist absurd, sagte er sich. Und dennoch kann ich nicht anders.

Ein Mädchen mit kleinen, hell leuchtenden Brüsten bat ihn um Feuer; geistesabwesend holte er sein Feuerzeug hervor. „Wieso leuchtet dein Busen?" fragte er. „Sind radioaktive Injektionen dafür verantwortlich?"

Sie zuckte die Achseln und ging weiter, ließ ihn allein zurück.

Vermutlich hatte er falsch reagiert.

Möglicherweise liegt es an einer kriegsbedingten Mutation, dachte er.

„Getränke, Sir." Beflissen hielt ihm ein Diener ein Tablett entgegen. Er griff nach einem Martini - dem derzeitigen Lieblingsgetränk der höheren Parteimitglieder in Volkschina

- und nippte an der eisgekühlten Flüssigkeit. Guter englischer Gin, sagte er zu sich selbst. Oder vielleicht sogar die Originalmischung aus Holland; mit Wacholder veredelt. Nicht schlecht. Er schlenderte weiter und fühlte sich ein wenig besser; um es genau zu sagen, fand er die Atmosphäre hier ausgesprochen angenehm. Alle Anwesenden wirkten sehr selbstbewußt; sie hatten Erfolg gehabt und konnten sich jetzt ein wenig entspannen. Offenbar waren die Gerüchte, daß die Gegenwart Seiner Hoheit zu Angstneurosen führte, falsch; zumindest er selbst spürte kaum etwas davon.

Ein schwergewichtiger, glatzköpfiger Mann mittleren Alters stellte sich Chien in den Weg und hielt ihm sein Glas vor die

Brust. „Dieses kleine Ding, das Sie um Feuer gebeten hat", kicherte der Unbekannte, „diese Biene mit den Brüsten, die wie Christbaumschmuck wirken - in Wirklichkeit war das ein junger Bursche." Er kicherte wieder. „Hier müssen Sie verdammt vorsichtig sein."

„Und wo", fragte Chien, „finde ich richtige Frauen - falls es sie hier überhaupt gibt? Tragen die vielleicht Frack und weiße Binde?"

„So ungefähr", bestätigte der Unbekannte und schloß sich einer Gruppe ausgelassener Gäste an, ließ Chien mit seinem Martini allein zurück.

Eine attraktive, hochgewachsene, gutgekleidete Frau, die in Chiens Nähe stand, legte ihm plötzlich ihre Hand auf den Arm; deutlich spürte er, wie ihre Finger zitterten, als sie sagte: „Da kommt Seine Hoheit. Heute treffe ich zum erstenmal mit ihm persönlich zusammen; ich bin ganz durcheinander. Ist meine Frisur auch in Ordnung?"

„Natürlich", erklärte Chien automatisch, und er folgte ihrem Blick und sah den Absoluten Wohltäter den Raum betreten.

Das, was durch den Festsaal schritt und sich dem Tisch in der Mitte näherte, war kein Mensch.

Und es war auch nicht, wie Chien erkannte, ein mechanisches Gebilde; nicht das, was er auf dem Fernsehschirm erblickt hatte. Offenbar war das nur ein Gerät gewesen, das die Reden hielt - ähnlich wie Mussolini einen künstlichen Arm benutzt hatte, um bei langen und anstrengenden Paraden bis zuletzt salutieren zu können.

Gott, dachte er, und Übelkeit erfaßte ihn. War dies das Meeresungeheur, von dem Tanya Lee gesprochen hatte? Aber es besaß keine feste Gestalt. Keine Pseudopodien, ob nun aus Fleisch oder aus Metall. In gewissem Sinne existierte es nicht einmal; als er sich dazu überwand, es direkt anzusehen, verschwamm die Gestalt in ein undefinierbares Gebilde, wie ein Nebel. Er konnte hindurchschauen und die

Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Saales erkennen - aber nicht mehr dieses Etwas. Wenn er den Kopf drehte und es aus den Augenwinkeln heraus betrachtete, dann nahm er wieder seine Umrisse wahr.

Es war schrecklich; seine Ungeheuerlichkeit lähmte ihn. Während es sich bewegte, sog es das Leben der Menschen nacheinander in sich auf; es fraß jene, die sich um es versammelt hatten, bewegte sich weiter und fraß und fraß mit unersättlichem Appetit. Es haßte; er fühlte diesen Haß. Es verachtete: er spürte, daß es jeden der Anwesenden verachtete - und er teilte diese Verachtung sogar. Plötzlich hatte er den Eindruck, daß er und alle anderen Menschen hier nur Schnecken waren, die sich in ihre Häuser verkrochen hatten, und dieses Geschöpf saugte sie in sich auf und hinterließ lediglich leere Schneckenhäuser, über die es hinwegschritt, sie zermalmte, sich nach rechts und links bewegte, aber sich ihm dabei zielbewußt näherte - oder war dies eine Illusion?