Wenn das eine Halluzination ist, dachte Chien, dann ist es die schrecklichste, die ich jemals gehabt habe; wenn dies jedoch keine Halluzination ist, dann ist diese böse Kreatur Wirklichkeit - ein grausiges Geschöpf, das tötet und verletzt. Er sah die Spur aus zertretenen, zerquetschten Männern und Frauen, die es hinterließ; er sah, wie sie versuchten, wieder zu Sinnen zu kommen und ihre verkrüppelten Körper zu beherrschen, hörte, wie sie sich abmühten, verständlich zu sprechen.
Ich weiß, wer du bist, dachte Tung Chien. Du, das Oberhaupt der weltweiten Parteiorganisation. Du, der du alle Lebewesen vernichtest, die du berührst. Ich sehe das arabische Gedicht vor mir, in dem du die Menschenwunden schlägst - ich sehe dich über die Ebene streifen, die unsere Erde für dich ist, eine Ebene ohne Berge, ohne Täler. Du gehst überallhin, du erscheinst jederzeit, verschlingst alles;
du erschaffst das Leben und zerstörst es dann, und du erfreust dich daran. Er dachte: Du bist Gott.
„Tung Chien", erklang die Stimme, aber sie sprach direkt in seinem Kopf, kam nicht von dem mundlosen Gespenst, das vor ihm auftauchte. „Ich freue mich, dich wiederzutreffen. Du weißt nichts. Geh fort. Ich habe kein Interesse an dir. Warum sollte ich mich auch um Schleim kümmern? Ja, Schleim, denn ich bin davon umgeben, muß ihn ausscheiden, und ich habe es so gewollt. Ich könnte dich zertreten; ich könnte selbst mich vernichten. Ich schreite über scharfe Steine; ich habe spitze Dinge über den Schleim verstreut. Ich erschaffe die Verstecke, die tiefen Schluchten, es kocht in mir und dringt heraus und nimmt Gestalt an; für mich sind die Meere so durchsichtig wie Glas. Die Fasern meines Fleisches sind mit allem verbunden. Du bist ich. Ich bin du. Es ist gleichgültig, wie es auch gleichgültig ist, ob jene Kreatur mit den leuchtenden Brüsten nun ein Mädchen oder ein Junge ist; du könntest lernen, dich an beiden zu erfreuen." Es lachte.
Er konnte nicht glauben, daß es zu ihm sprach; er konnte sich nicht vorstellen - denn es war zu schrecklich -, daß es ihn auserwählt hatte.
„Ich habe jeden auserwählt", erklärte es. „Niemand ist zu unbedeutend; jeder fällt und stirbt, und ich bin da, um alles zu beobachten. Ich brauche nur zuzusehen; alles geht automatisch, denn so wurde es eingerichtet." Und dann sprach es nicht mehr mit ihm, sondern löste sich auf. Aber er sah es noch immer; er spürte seine vielfältige Gegenwart. Es war eine Kugel, die im Raum hing und fünfzigtausend Augen besaß oder eine Million - Milliarden; ein Auge für jedes Lebewesen, denn es wartete auf jeden, daß er fiel, um ihn zertreten zu können, wenn er hilflos dalag. Denn zu diesem Zweck hatte es das Leben erschaffen, und er wußte, verstand es jetzt. Was in dem arabischen Gedicht der Tod ge wesen zu sein schien, war nicht der Tod, sondern Gott; oder vielmehr war Gott der Tod, eine Kraft, ein Raubtier, ein kannibalisches Geschöpf, das seine Opfer wieder und wieder verfehlte und dies sich auch leisten konnte, stand ihm doch die Ewigkeit zur Verfügung. Beide Gedichte sagten die Wahrheit, erkannte er; auch jenes von Dryden. Die faule Pracht... das ist unsere Welt, und du hast sie erschaffen. Hast sie verzerrt, daß sie sich in dieser Weise entwickelte -und uns damit an dich gefesselt.
Aber zumindest, dachte er, habe ich mir meine Würde bewahrt. Und mit Würde setzte er sein Glas ab, drehte sich um und verließ den Saal durch eine der Türen. Er durchschritt einen langen, mit Teppichen ausgelegten Korridor. Ein Diener, von Kopf bis Fuß in Purpur gekleidet, öffnete eine weitere Tür vor ihm; er trat hinaus in die Finsternis der Nacht, stand allein auf einer Veranda.
Allein? Nein, er war nicht allein.
Es war ihm gefolgt. Oder hatte ihn bereits hier erwartet. Ja, so mußte es sein. Es war noch nicht fertig mit ihm.
„Ich gehe", erklärte er und lehnte sich über das Geländer; sechs Stockwerke unter ihm glänzte das Flußbett, wo der Tod wartete, der richtige Tod, nicht der aus dem arabischen Gedicht.
Als er sich hinunterstürzen wollte, legte es ihm eine seiner Gliedmaßen auf die Schulter.
„Warum?" fragte er. Aber er verharrte. War verwirrt. Verstand nichts mehr, nichts.
„Stürze dich nicht meinetwegen hinunter", sagte es. Er konnte es nicht mehr sehen, weil es hinter ihm stand. Aber dieses Ding auf seiner Schulter - es begann sich wie eine menschliche Hand anzufühlen.
Und dann lachte es.
„Was ist daran so lustig?" erkundigte er sich, während er zitternd am Geländer lehnte, noch immer von jener Pseudo
hand festgehalten wurde.
„Du nimmst mir meine Arbeit ab", sagte es. „Du wartest nicht; hast du keine Zeit? Ich werde dich unter den anderen auswählen; du brauchst den Vorgang nicht zu beschleunigen."
„Was ist, wenn ich doch springe?" fragte er. „Aus Abscheu vor dir?"
Es lachte. Und antwortete nicht.
„Du willst es mir nicht sagen", erkannte er.
Erneut nur Schweigen. Er löste sich von dem Geländer, glitt zurück auf die Veranda. Und auf einmal verschwand der Druck der Pseudohand.
„Du hast die Partei gegründet?" wollte er wissen.
„Ich habe alles gegründet. Die Anti-Partei und die Partei, die keine Partei ist, und ihre Anhänger und ihre Gegner, jene, die du als Yankee-Imperialisten bezeichnest, die Reaktionäre und alle anderen. Ich habe alles erschaffen. Als seien sie Grashalme."
„Und du bist hier, um dich daran zu vergnügen?" fragte er.
„Was ich will", erwiderte es, „ist, daß du mich siehst, wie ich bin, wie du mich gesehen hast, und ich will, daß du mir in allem absolut vertraust."
„Was?" stieß er mit bebender Stimme hervor. „Dir soll ich vertrauen?"
„Glaubst du an mich?" entgegnete es.
„Ja", nickte er. „Ich sehe dich."
„Dann kehre zurück an deine Arbeit im Ministerium. Sage Tanya Lee, daß du einen überarbeiteten, übergewichtigen alten Mann angetroffen hast, der zuviel trinkt und der Gefallen daran findet, den Mädchen in das Hinterteil zu kneifen."
„Oh, Jesus!" entfuhr es ihm.
„Und während du weiterlebst, weil du nicht in der Lage bist, dein Leben zu beenden, werde ich dich peinigen", fuhr es fort. „Ich werde dir alles abnehmen, Stück für Stück, alles, was du besitzt oder haben möchtest. Und dann, wenn du tot zusammenbrichst, werde ich dir ein Geheimnis verraten."
„Was für ein Geheimnis?"
„Die Toten werden leben, die Lebenden werden sterben. Ich töte alles was lebt; ich errette alles was gestorben ist. Und ich verrate dir eines: Es gibt schlimmere Dinge als mich. Aber du wirst ihnen nicht begegnen, weil ich dich bis dahin schon ermordet habe. Geh du nun zurück in den Festsaal und bereite dich auf das Essen vor. Stelle nicht in Frage, was ich anrichte; ich habe alles schon lange vor Tung Chien getan und ich werde es noch lange nach ihm tun."
Er schlug so kraftig zu, wie er konnte.
Und schrecklicher Schmerz explodierte in seinem Kopf.
Gefolgt von Dunkelheit und dem Gefühl zu fallen.
Und danach wieder Dunkelheit. Er dachte: Ich werde dich erwischen. Ich werde dafür sorgen, daß auch du stirbst. Daß du leidest; du wirst leiden, genau wie wir, ohne Unterschied. Ich werde dich erwischen; ich schwöre bei Gott, daß ich dich irgendwann erwischen werde. Und es wird wehtun. So wie ich jetzt Schmerzen habe.