Er schloß die Augen.
Brutal wurde er geschüttelt. Und dann hörte er Mr. Komo Okubaras Stimme. „Aufstehen, Trunkenbold. Stehen Sie auf!"
Ohne die Augen zu Öffnen, sagte er: „Besorgen Sie mir ein Taxi."
„Taxi wartet schon. Sie fahren nach Hause. Nach dieser Schande! Sie haben eine schreckliche Szene gemacht."
Unsicher kam er wieder auf die Beine, öffnete die Augen und sah an sich herab. Unser Führer, dem wir folgen, dachte er, ist der Einzige, der Wahre Gott. Und der Feind, den wir bekämpft haben, ist ebenfalls Gott. Es stimmt, es ist wahr - er ist allgegenwärtig. Aber bisher hatte ich nicht verstanden, was das bedeutet. Er starrte den Protokollbeamten an und dachte: Auch du bist Gott. Deshalb gibt es keinen Ausweg, nicht einmal, wenn man sich zu Tode stürzt. Wie ich es instinktiv versucht habe.
„Sie haben gleichzeitig Alkohol und Drogen zu sich genommen", bemerkte Okubara tadelnd. „Haben Ihre Karriere ruiniert. Ich habe das schon oft erlebt. Hauen Sie bloß ab."
Taumelnd näherte er sich dem großen Hauptportal der Villa am Jangtse. Zwei Diener, die wie mittelalterliche Ritter gekleidet waren und Federbuschhelme trugen, öffneten zeremoniell für ihn die Tür, und einer sagte: „Gute Nacht, Sir."
„Gleichfalls", erwiderte Chien und verschwand in der Nacht.
Morgens um zwei Uhr fünfundvierzig saß er schlaflos im Wohnzimmer seines Konaps, rauchte eine Cuesta Rey Astroria nach der anderen und hörte, wie jemand an der Tür klopfte.
Er öffnete und stand Tanya Lee gegenüber, die ihren Regenmantel trug und völlig verfroren aussah. Fragend leuchteten ihre Augen auf.
„Sieh mich nicht so an", sagte er heiser. Seine Zigarre war erloschen; er setzte sie wieder in Brand. „Ich bin schon genug angesehen worden", fügte er hinzu.
„Du bist ihm begegnet", erkannte sie.
Er nickte.
Sie setzte sich auf die Couchlehne, und nach einer Weile fragte sie: „Was kannst du mir erzählen?"
„Geh so weit wie möglich fort", erklärte er. „So weit du kannst." Und dann kam die Erinnerung; nein, es gab keinen Weg, der lang genug war. Und er erinnerte sich, daß er auch das schon einmal irgendwo gelesen hatte. „Vergiß es", sagte er und erhob sich, betrat unsicheren Schrittes die Küche, um Kaffee aufzusetzen.
Tanya folgte ihm. „War... war es so schlimm?"
„Wir können nicht gewinnen", erwiderte er. „Du kannst nicht gewinnen, und ich erst recht nicht. Ich habe nichts mehr damit zu tun; ich möchte nur noch in meinem Ministerium arbeiten und alles vergessen. Das ganze verdammte Erlebnis einfach vergessen, aus meinem Gedächtnis streichen."
„Ist es ein extraterrestrisches Wesen?"
„Ja", nickt er.
„Ist es uns feindlich gesinnt?"
„Ja", sagte er. „Nein. Beides trifft zu. Aber überwiegend ist es uns feindlich gesinnt."
„Dann müssen wir... "
„Geh nach Hause", forderte er sie auf, „und lege dich schlafen." Nachdenklich sah er sie an; lange Zeit hatte er dagesessen und über vieles nachgedacht. Über sehr vieles. „Bist du verheiratet?" wollte er wissen.
„Nein. Nicht mehr. Früher schon."
„Dann bleibe heute nacht bei mir", bat er. „Zumindest den Rest dieser Nacht. Bis die Sonne aufgeht." Er fügte hinzu: „In der Nacht ist es schrecklich."
„Ich werde bei dir bleiben", versprach Tanya und löste den Gürtel ihres Regenmantels, „aber du mußt mir noch einige Fragen beantworten."
„Was meinte Dryden", murmelte Chien, „als er sagte, daß die Musik zum Himmel steigen wird? Ich verstehe das nicht. Was hat Musik mit dem Himmel zu tun?"
„Die himmlische Ordnung des Universums endet dann", entgegnete sie, während sie ihren Regenmantel in den Schlafzimmerschrank hing. Sie trug jetzt einen orange gestreiften Pullover und Stretchhosen.
„Und ist das schlimm?" fragte er.
Sie schwieg nachdenklich. „Ich weiß es nicht. Vermutlich schon."
„Damit traut man der Musik sehr viel Macht zu", bemerkte er.
„Nun, du weißt doch, was der alte Pythagoras von der ,Sphärenmusik' gehalten hat." Sie setzte sich auf das Bett und streifte ihre sandalenartigen Schuhe ab.
„Du glaubst daran?" fragte er. „Glaubst du auch an Gott?"
„Gott!" Sie lachte. „Seit Erfindung der Eisenbahn ergibt dieser Begriff keinen Sinn mehr. Was meinst du denn genau? Gott - oder Gott?" Sie trat dicht an ihn heran und starrte ihm ins Gesicht.
„Schau mich nicht so an", verlangte er scharf, wich zurück. „Ich möchte nie wieder so angesehen werden." Irritiert entfernte er sich von ihr.
„Ich denke", erklärte Tanya, „daß, wenn es einen Gott gibt, Er sehr wenig Interesse an unseren menschlichen Angelegenheiten hat. Das ist meine Theorie. Ich meine, Er scheint sich nicht darum zu kümmern, ob nun das Böse triumphiert oder ob Menschen und Tiere verletzt und getötet werden. Nirgendwo ist etwas von Ihm zu sehen. Und die Partei hat schon immer jede Form von Glauben abgelehnt... "
„Hast du Ihn jemals gesehen?" fragte er. „Als du noch ein Kind warst?"
„Oh, natürlich, als Kind schon. Aber ich habe ebenfalls geglaubt, daß... "
„Ist dir schon jemals der Gedanke gekommen", unterbrach Chien, „daß gut und böse Bezeichnungen für das gleiche Ding sein können? Daß Gott gleichzeitig gut und böse sein kann?"
„Ich werde dir einen Drink mixen", erklärte Tanya und eilte barfüßig in die Küche.
„Der Zerstörer", sagte Chien. „Der Klapperer. Der Schlinger und der Vogel und die Kletterröhre... und die anderen
Bezeichnungen, die anderen Gestalten, die ich nicht kenne. Ich hatte eine Halluzination. Während des Festes. Eine große, umfassende, entsetzliche Halluzination."
„Aber das Stelazin..."
„Es hat eine noch schlimmere hervorgerufen", bemerkte er.
„Gibt es irgendeine Möglichkeit", fragte Tanya nüchtern, „dieses Ding, das du gesehen hast, zu bekämpfen? Diese Erscheinung, die du als Halluzination bezeichnest, die aber offensichtlich keine war?"
„Man muß daran glauben", erklärte er.
„Und was wird das nützen?"
„Nichts", murmelte er müde. „Überhaupt nichts. Ich bin erschöpft; ich möchte keinen Drink - ich möchte nur zu Bett gehen."
„In Ordnung." Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog ihren gestreiften Pullover über den Kopf. „Wir können später noch einmal darüber diskutieren."
„Eine Halluzination", sagte Chien, „ist etwas Wunderbares. Ich wünschte, ich hätte eine; ich will meine zurückhaben. Ich möchte so sein wie damals, bevor dieser Hausierer mir das Phenothiazin gab."
„Komm ins Bett. Es wird schön werden. Hier ist es warm und gemütlich."
Er legte seine Krawatte ab, sein Hemd - und entdeckte an seiner rechten Schulter das Zeichen, das Stigma, das zurückgeblieben war, nachdem es ihn vom Sturz in den Jangtse abgehalten hatte. Blutunterlaufene Stellen, die aussahen, als würden sie niemals wieder verschwinden. Er zog die Schlafanzugjacke an, und sie verbarg die Wundmale.
„Jedenfalls", bemerkte Tanya, als er sich zu ihr ins Bett legte, „ist deine Karriere dadurch sehr gefördert worden. Bist du nicht froh darüber?"
„Gewiß", sagte er und nickte knapp in die Dunkelheit hin
ein. „Sehr froh."
„Komm zu mir", sagte Tanya und legte ihre Arme um ihn. „Und vergiß alles andere. Zumindest für kurze Zeit."
Er zog sie an sich und tat das, was sie und er gewollt hatten. Sie war geschickt; sie war einfühlsam; sie war erfahren und sie half ihm, wie er ihr half. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie schließlich „Oh!" sagte. Und sich dann entspannte.
„Ich wünschte", sagte er, „wir könnten ewig weitermachen."
„Wir können es", erklärte Tanya. „Es liegt außerhalb der Zeit; es ist grenzenlos wie ein Ozean. So war es damals im Kambrium, bevor unsere Vorfahren sich ans Land begaben; es ist die uralte ewige See. Und dies ist die einzige Möglichkeit, dorthin zurückzukehren. Darum bedeutet es auch soviel. Und in diesen Zeitaltern waren wir nicht voneinander getrennt; es war wie eine einzige weiche Masse, wie jene Quallen, die an den Strand gespült werden."