Dancemann bemerkte seinen Gesichtsausdruck und
fragte: „Was ist mit Ihnen?"
„Schauen Sie sich um", forderte Poole ihn heiser auf. „Bemerken Sie irgendeine Veränderung?"
„Nein. Was meinen Sie denn?"
„Sie sehen noch immer die Silhouette von New York?"
„Natürlich. Voller Smog wie immer. Die Lichter blinken..."
„Jetzt weiß ich Bescheid", murmelte Poole. Er hatte recht gehabt; jedes eingestanzte Loch, das er übertüncht hatte, bedeutete, daß ein Gegenstand aus seiner Realität verschwand. Er erhob sich und erklärte: „Wir werden uns später weiter unterhalten. Ich muß zurück in mein Apartment; da wartet noch Arbeit auf mich. Gute Nacht." Er eilte aus der Bar und suchte nach einem Taxi.
Es gab keine Taxis.
Das also auch, dachte er. Ich frage mich, was ich sonst noch überdeckt habe. Huren? Blumen? Gefängnisse?
Auf dem Parkplatz der Bar stand Dancemanns Schweber.
Ich werde ihn nehmen, entschied er. In Dancemanns Welt existieren die Taxis noch, so daß er sich eines rufen kann. Jedenfalls gehört der Schweber der Firma, und für diese Fahrzeuge besitze ich den Schlüssel.
Kurz danach war er bereits in der Luft und lenkte den Schweber in Richtung seines Apartmenthauses.
New York City war noch nicht wieder erschienen. Rechts und links von ihm befanden sich Fahrzeuge und Gebäude, Straßen, Fußgänger, und in der Mitte nichts. Kann ich dort hineinfliegen? fragte er sich. Werde ich dann ebenfalls verschwinden?
Oder nicht? Er flog fünfzehn Minuten lang in einem Kreis um das rätselhafte Nichts herum und rauchte eine Zigarette nach der anderen... und dann, plötzlich, gerauschlos, tauchte New York City wieder auf. Endlich konnte er seine Fahrt beenden. Er drückte seine Zigarette aus (eine schreckliche Verschwendung, wenn man bedachte, wie teuer Zigaretten waren) und schoß davon in Richtung seines Apartments.
Falls ich einen schmalen, undurchsichtigen Streifen einfüge, überlegte er, als er die Tür aufschloß, dann kann ich...
Sein Gedankengang wurde unterbrochen. Jemand saß im Wohnzimmer in seinem Sessel und sah sich die Abenteuer von Kapitän Kirk im Fernsehen an.
„Sarah", stieß er verärgert hervor.
Sie erhob sich, und trotz ihrer Molligkeit waren ihre Bewegungen graziös. „Ich habe dich im Krankenhaus nicht mehr angetroffen und bin deshalb hierher gekommen. Du weißt doch, daß ich noch den Schlüssel habe, den du mir im März nach unserem schrecklichen Streit zurückgegeben hast. Oh... du siehst so deprimiert aus." Sie kam zu ihm und sah ihm besorgt ins Gesicht. „Schmerzt deine Verletzung denn noch so sehr?"
„Daran liegt es nicht." Er legte seinen Mantel ab, dann die Krawatte, das Hemd und anschließend die Brustplatte; er kniete nieder und schob seine Hände in die Handschuhe, mit denen er die Mikrowerkzeuge bedienen konnte. Er hielt inne, blickte zu ihr auf und erklärte: „Ich habe herausgefunden, daß ich eine elektrische Ameise bin. Wenn man den richtigen Standpunkt hat, dann eröffnet das bestimmte Möglichkeiten, die ich jetzt erkunden werde." Er bewegte seine Finger, und der zweite Teil des linken Waldos ergriff einen Mikroschraubenzieher, der durch den Vergrößerungsschirm sichtbar gemacht wurde. „Du kannst zusehen", bot er ihr an. „Wenn du es möchtest."
Sie hatte zu weinen begonnen.
„Was ist los?" fragte er gereizt, ohne aufzublicken.
„Ich... es ist alles so schrecklich traurig. Du warst für alle von uns bei Tri-Plan ein solch guter Vorgesetzter. Wir haben dich so sehr verehrt. Und jetzt ist alles aus."
Das Plastikband war an beiden Rändern ungelocht; er schnitt einen sehr schmalen, horizontalen Streifen heraus, konzentrierte sich und zerschnitt dann das Band selbst an einer Stelle, die vier Stunden vor dem Abtastkopf lag. Dann drehte er das abgeschnittene Stück im rechten Winkel zu dem Abtaster und schweißte es mit einem Mikrohitzekolben wieder an und befestigte gleichzeitig den schmalen horizontalen Streifen. Damit hatte er in seine Wirklichkeit eine tote Phase von zwanzig Minuten Dauer eingefügt. Nach seinen Berechnungen würde sich diese Unterbrechung kurz nach Mitternacht bemerkbar machen.
„Reparierst du dich?" fragte Sarah schüchtern.
„Ich befreie mich", erklärte Poole. Später würde er noch einige andere Versuche anstellen. Aber zunächst mußte er seine Theorie überprüfen; wenn ein leeres, ungelochtes Band keine Stimuli bedeutete, dann würde das Fehlen des Bandes...
„Dieser Gesichtsausdruck..." bemerkte Sarah. Sie begann ihren Mantel anzuziehen, griff nach ihrer Handtasche und rollte ein Video-Magazin zusammen. „Ich werde jetzt gehen; ich habe schon gemerkt, was du davon hältst, mich hier getroffen zu haben."
„Bleib", forderte er sie auf. „Wir können uns zusammen die Abenteuer von Kapitän Kirk ansehen." Er zog sein Hemd wieder an. „Erinnerst du dich noch, daß es früher - so vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren - noch zwei Dutzend Fernsehkanäle gegeben hat? Damals, bevor die Regierung die unabhängigen Sender geschlossen hat?"
Sie nickte.
„Wie hätte es wohl ausgesehen," fuhr er fort, „wenn dieses Fernsehgerät alle Kanäle zur gleichen Zeit auf den Bildschirm projiziert hätte? Ob es dann noch möglich wäre, aus dem Durcheinander etwas zu erkennen?"
„Ich glaube nicht."
„Vielleicht hätten wir es lernen können. Lernen zu selektie ren; selbständig nur das aufzufassen, was wir sehen wollen und das zu ignorieren, was uns nicht gefällt. Stell dir die Möglichkeiten vor, die wir hätten, wenn unser Gehirn in der Lage wäre, zwanzig Bilder auf einmal zu verarbeiten; stell dir die Menge der Informationen vor, die man dann in einer begrenzten Zeitspanne in sich aufnehmen könnte. Ich frage mich, ob das Gehirn, das menschliche Gehirn..." Er verstummte. Schließlich sprach er weiter, wie zu sich selbst. „Nein, dem menschlichen Gehirn ist das nicht möglich. Aber rein theoretisch könnte es ein quasi-organisches Gehirn schaffen."
„Und so etwas hast du?" fragte Sarah.
„Ja", nickte Poole.
Gemeinsam sahen sie sich Kapitän Kirks Abenteuer bis zum Ende an und gingen dann zu Bett. Aber Poole blieb sitzen, an sein Kopfkissen gelehnt, und rauchte und dachte nach. Neben ihm lag Sarah, wälzte sich ruhelos hin und her und fragte sich, warum er nicht das Licht ausknipste.
Immerhin war es schon zehn Minuten vor zwölf.
„Sarah", sagte er, „ich brauche deine Hilfe. In wenigen Minuten wird etwas sehr Seltsames mit mir geschehen. Es wird nicht lange dauern, aber ich möchte dich bitten, daß du mich sehr aufmerksam beobachtest. Achte darauf, ob ich... " Er fuhr sich durch das Haar. „Ob sich bei mir irgendeine Veränderung zeigt. Ob ich einschlafe oder Unsinn rede oder..." Er wollte sagen: Oder ob ich verschwinde. Doch er verbiß es sich. „Ich glaube nicht, daß ich dir irgendwelchen Schaden zufügen werde, aber ich glaube, es ist eine gute Idee, daß du dich bewaffnest. Hast du deine Pistole bei dir?"
„In meiner Handtasche." Sie war hellwach geworden, saß aufrecht im Bett und blickte ihn voller Furcht an, und ihre gerundeten Schultern wirkten bleich und unwirklich im Licht der Nachttischlampe.
Er holte ihr die Pistole.
Dann erstarrte das Zimmer in völliger Unbeweglichkeit. Die Farben verblaßten. Die Gegenstände verschwammen, bis sie wie Nebel in den Schatten versanken. Dunkelheit legte sich über den Raum, während die Einrichtung immer durchsichtiger wurde.
Die letzten Stimuli lassen nach, erkannte Poole. Er blinzelte, versuchte besser zu sehen. Er erkannte Sarah Ben-ton, sah sie neben sich im Bett: eine zweidimensionale Gestalt, die zusammenschrumpfte, an eine Puppe erinnerte und mehr und mehr in Auflösung begriffen war. Wolken aus entmaterialisierender Substanz trieben träge umher, prallten zusammen, teilten sich, prallten erneut zusammen. Und dann verschwanden die letzten Reste an Hitze, Energie und Licht; das Zimmer schloß sich um ihn und fiel in sich zusammen, löste sich aus der Realität. Und von da an gab es nur noch absolute Schwärze, Raum ohne Tiefe, nicht finster, sondern eher erstarrt, unbewegt. Außerdem hörte er nichts mehr.