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„Dort drinnen."

„In den Ruinen?"

„Ja."

„Unter der Erde?"

„Ja."

„Wieviele Menschen leben dort?"

„Wie... wieviele?"

„Wieviele von deiner Sorte. Wie groß ist eure Siedlung?"

Der Junge antwortete nicht.

Hendricks runzelte die Stirn. „Du bist wohl allein, wie?"

Der Junge nickte.

„Wie hältst du dich am Leben?"

„Es gibt dort Nahrung."

„Was für Nahrung?"

„Verschiedene."

Hendricks musterte ihn genau. „Wie alt bist du?"

„Dreizehn."

Das war unmöglich. Oder stimmte es doch? Der Junge war dürr, zurückgeblieben. Und vermutlich steril. Strahleneinwirkung, die ganzen Jahre hindurch. Kein Wunder, daß er so klein war. Seine Arme und Beine wirkten wie Pfeifenreiniger, knotig und dünn. Hendricks berührte den Arm des Jungen. Die Haut war trocken und rauh; Strahlenhaut. Er beugte sich nach unten und blickte dem Jungen ins Gesicht. Es war völlig ausdruckslos. Und besaß große Augen, groß und dunkel.

„Bist du blind?" wollte Hendricks wissen.

„Nein. Ich kann sehen."

„Wie bist du den Klauen entkommen?"

„Den Klauen?"

„Den runden Dingern. Die laufen und graben."

„Ich verstehe nicht."

Vielleicht gab es keine Klauen in dieser Gegend. Eine Anzahl Gebiete waren frei von ihnen. Sie sammelten sich meistens in der Nahe der Bunker, dort, wo sich Menschen befanden. Die Klauen waren in der Lage, Wärme zu registrieren, die Wärme lebender Wesen.

„Du bist glücklich." Hendricks richtete sich auf. „Nicht wahr? Wohin gehst du jetzt? Zurück - dorthin zurück?"

„Kann ich mit Ihnen kommen?"

„Mit mir?" Hendricks verschränkte die Arme. „Ich habe einen weiten Weg vor mir. Viele Meilen. Ich muß mich beeilen." Er blickte auf seine Uhr. „Ich muß vor Anbruch der Nacht dort eintreffen."

„Ich möchte mitkommen."

Hendricks stöberte in seinem Rucksack. „Es ist es nicht wert. Hier." Er holte die Konserven hervor, die er mitgenommen hatte. „Du nimmst das hier und gehst zurück. Okay?"

Der Junge sagte nichts.

„Ich werde wiederkommen. In etwa einem Tag. Wenn du hier bist, wenn ich zurückkomme, nehme ich dich mit. In Ordnung?"

„Ich möchte jetzt mit Ihnen gehen."

„Es ist ein weiter Weg."

„Ich kann laufen."

Hendricks war unbehaglich zumute. Zwei Menschen gaben ein zu gutes Ziel ab. Und der Junge würde ihn aufhalten. Aber vielleicht würde er nicht hierher zurückkehren können. Und wenn der Junge wirklich ganz allein war...

„Okay. Komm mit."

Der Junge glitt an seine Seite. Hendricks setzte sich in Bewegung. Der Junge ging still neben ihm her und umklammerte seinen Teddybär.

„Wie heißt du?" fragte Hendricks nach einer Weile.

„David Edward Derring."

„David? Was - was geschah mit deiner Mutter und deinem Vater?"

„Sie starben."

„Wodurch?"

„Durch die Explosion."

„Wie lange ist das her?"

„Sechs Jahre."

Hendricks wurde langsamer. „Seit sechs Jahren bist du allein?"

„Nein. Eine Zeitlang waren andere Menschen bei mir. Sie gingen fort."

„Und seitdem bist du allein?"

„Ja."

Hendricks blickte auf ihn hinunter. Der Junge war seltsam, sprach sehr wenig. War verschlossen. Aber so waren sie, die Kinder, die überlebt hatten. Still. Stoisch. Ein merkwürdiger Fatalismus hatte sie befallen. Nichts überraschte sie. Sie akzeptierten alles, was ihnen zustieß. Es gab keinen normalen, keinen natürlichen Lauf der Dinge mehr, ob nun seelisch oder körperlich, dem sie folgen konnten. Sitten, Gewohnheiten, all die bestimmenden Kräfte, durch die ein Kind lernte, waren verschwunden; nur rohe Erfahrungen waren geblieben.

„Gehe ich zu schnell?" fragte Hendricks.

„Nein."

„Wie kam es, daß du mich gesehen hast?"

„Ich habe gewartet."

„Gewartet?" Hendricks war verwirrt. „Worauf hast du gewartet?"

„Ich wollte Dinge fangen."

„Was für Dinge?"

„Dinge, die man essen kann."

„Oh." Hendricks preßte grimmig die Lippen aufeinander. Ein dreizehnjähriger Junge, der von Ratten und Mäusen und halbverdorbenen Konserven lebte. In einem Loch unter den Ruinen der Stadt. Umgeben von radioaktiven Pfützen und Klauen, und über ihm am Himmel huschten russische Fallminen entlang.

„Wohin gehen wir?" fragte David.

„Zu den russischen Linien."

„Russen?"

„Der Feind. Wir haben mit ihnen diesen Krieg geführt."

Der Junge nickte. Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos.

„Ich bin Amerikaner", erklärte Hendricks.

Er erhielt keine Antwort. Sie marschierten weiter, Hendricks voraus, David hinter ihm, der seinen schmutzigen Bären an die Brust drückte.

Gegen vier Uhr nachmittags legten sie eine Pause ein, um etwas zu essen. Hendricks machte in einer Vertiefung zwischen einigen Betonplatten ein Feuer. Er zupfte das Unkraut heraus und häufte Holzstückchen auf. Die russischen Linien waren nicht mehr weit von ihnen entfernt. Sie befanden sich in einem Gebiet, das einst ein langgestrecktes Tal gewesen war, Hektar voller Obstbaume und Weinstöcke. Nichts davon war übriggeblieben, nur die wenigen schwarzen Baumstümpfe und die Berge, die sich weit vor ihnen am Horizont erstreckten. Und die Wolken aus hochgewirbelter Asche, die in den Windböen dahintrieben und sich auf das Unkraut und die Überreste der Gebäude legten, auf verstreut stehende einsame Mauerfragmente, und nach und nach das unter sich begruben, was einst eine Stadt gewesen war.

Hendricks bereitete Kaffee zu und erwärmte das gekochte Hammelfleisch, reichte Brot dazu. „Hier." Er gab David das Brot und ein Stück Hammelfleisch. David kauerte sich dicht am Feuer nieder, und seine Knie waren knotig und bleich. Er untersuchte das Essen und gab es dann kopfschüttelnd zurück.

„Nein."

„Nein? Möchtest du denn nichts essen?"

Hendricks zuckte die Achseln. Vielleicht war der Junge ein Mutant und an eine spezielle Nahrung gewöhnt. Es spielte keine Rolle. Wenn er hungrig wurde, würde er schon etwas zu essen finden. Der Junge war seltsam. Aber die Welt hatte sehr viele seltsame Veränderungen erlebt. Das Leben war nicht mehr so wie früher. Und es würde nie mehr so wie früher sein. Die menschliche Rasse würde dies akzeptieren müssen.

„Wie du willst", sagte Hendricks. Er verzehrte das Brot und das Hammelfleisch und spülte es mit Kaffee hinunter. Er aß langsam und fand die Mahlzeit schwer verdaulich. Als er fertig war, erhob er sich wieder und trat das Feuer aus.

David stand langsam auf und beobachtete ihn mit seinen jungen, alten Augen.

„Wir gehen weiter", verkündete Hendricks.

„In Ordnung."

Hendricks schritt aus und hielt das Gewehr in den Armen. Sie waren den Stellungen jetzt sehr nah; er war angespannt, auf alles vorbereitet. Die Russen erwarteten vermutlich einen Kurier, eine Antwort auf ihren eigenen Boten, aber sie waren verschlagen. Es bestand noch immer die Möglichkeit, daß es eine Falle war. Er beobachtete die Umgebung. Nichts als Schlacke und Asche, ein paar Anhebungen, kahle Bäume, Betonmauern. Aber irgendwo dort vor ihm befand sich der vorderste Bunker der russischen Stellungen, der Vorposten. Unterirdisch, tief eingegraben, sichtbar nur durch das Periskop, einige Gewehrläufe. Vielleicht noch eine Antenne.

„Werden wir bald dort sein?" fragte David.

„Ja. Bist du müde?"

"Nein."

„Warum fragst du dann?"

David antwortete nicht. Er stapfte vorsichtig hinter ihm her und bahnte sich seinen Weg durch die Asche. Seine Beine und Schuhe waren grau vom Staub. Streifen zerteilten sein verkniffenes Gesicht, graue Staublinien, die sich wie Bäche über die helle Blässe seiner Haut zogen. Sein Gesicht war völlig farblos. Typisch für die neuen Kinder, die in Kellern und Kanälen und unterirdischen Verstecken aufwuchsen.