Swanson fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sie meinen also, daß wir eine Art - unfreiwilliges Publikum sind?«
Burckhardt runzelte die Stirn. »Nicht direkt.« Er dachte eine Weile nach, dann fügte er hinzu: »Sie wissen doch, wie ein Arzt ein Medikament testet - zum Beispiel Penicillin? Er legt eine Reihe kleiner Bakterienkolonien auf Gallertscheiben an und probiert das Zeug hintereinander an allen Kolonien aus, wobei er es jeweils ein bißchen verändert. Nun, das sind wir - wir sind die Bakterien, Swanson. Aber in unserem Fall ist das Verfahren noch viel wirksamer. Sie brauchen nur eine einzige Kolonie zu testen, weil sie die immer wieder benutzen können.«
Das ging über Swansons Begriffsvermögen hinaus. Er fragte nur: »Und was sollen wir dagegen unternehmen?«
»Wir gehen zum FBI. Sie können menschliche Wesen nicht als Versuchskaninchen mißbrauchen.«
»Und wie kommen wir zum FBI?« Burckhardt zögerte. »Ich glaube.«, begann er langsam. »Klar - das ist das Büro eines großen Tieres. Wir haben eine Waffe. Wir bleiben hier, bis der Typ kommt. Und der wird uns dann hier rausbringen.«
So einfach war das. Swanson war einverstanden und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, so daß er von der Tür aus nicht gesehen werden konnte. Burckhardt bezog hinter der Tür Stellung. Und wartete.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte Burckhardt, wie sich Stimmen näherten, und hatte gerade noch Zeit, Swanson einen kurzen Befehl zuzuflüstern, bevor er sich an die Wand preßte.
Es waren die Stimmen eines Mannes und eines Mädchens. Der Mann sagte: »Ich verstehe nicht, warum Sie uns keinen telefonischen Bericht geben konnten. Sie ruinieren alle Ihre heutigen Tests. Was zum Teufel ist denn los mit Ihnen, Janet?«
»Es tut mir leid, Mr. Dorchin«, sagte sie mit ihrer süßen, hellen Stimme. »Aber ich dachte, es wäre wichtig.«
Der Mann seufzte. »Wichtig! Eine lausige Einheit von einundzwanzigtausend!«
»Aber es ist die Burckhardt-Einheit, Mr. Dorchin. Schon wieder. Da er von der Bildfläche verschwunden ist, muß ihm irgend jemand geholfen haben.«
»Also gut, es ist ja nicht so schlimm, Janet. Das Schokohappenprogramm ist dem Zeitplan ohnehin um einiges voraus. Solange Sie so gut im Rennen sind, können Sie ins Büro kommen, wann Sie wollen, und Ihren Arbeitsbericht schreiben. Und um Burckhardt machen Sie sich keine Sorgen. Wahrscheinlich läuft er nur irgendwo herum. Heute abend werden wir ihn schnappen und.«
In diesem Augenblick gingen sie durch die Tür. Burckhardt warf sie zu und hob den Revolver.
»Das bilden Sie sich ein, was?« sagte er triumphierend.
Die schrecklichen Stunden, das quälende Gefühl, verrückt zu werden, die Verwirrung und die Angst hatten sich gelohnt. Noch nie in seinem Leben hatte Burckhardt eine so tiefe Befriedigung empfunden. Das Gesicht des Mannes zeigte einen Ausdruck, dessen Beschreibung Burckhardt schon oft in Romanen gelesen, den er aber noch nie gesehen hatte. Der Mund und die Augen wurden unnatürlich groß, und obwohl er einen Laut hervorbrachte, der wie eine Frage klang, waren seine Lippen unfähig, Worte zu bilden.
Das Mädchen war fast genauso überrascht. Burckhardt sah sie an und wußte, warum ihm ihre Stimme so bekannt vorgekommen war. Es war das Mädchen, das sich ihm als April Horn vorgestellt hatte.
Dorchin erholte sich ziemlich rasch von seinem Schrecken.
»Ist er das?« fragte er scharf.
»Ja«, sagte das Mädchen.
Dorchin nickte. »Ich nehme alles zurück. Sie hatten recht. Eh -Burckhardt, was wollen Sie?«
Swanson sprang auf. »Seien Sie vorsichtig! Vielleicht hat er eine Waffe.«
»Untersuchen Sie ihn!« befahl Burckhardt. »Ich werde Ihnen sagen, was wir wollen, Dorchin. Wir möchten, daß Sie uns zum FBI begleiten und den Beamten erklären, woher Sie das Recht genommen haben, zwanzigtausend Leute zu kidnappen.«
»Wieso kidnappen?« Dorchin schnaufte verächtlich. »Das ist doch lächerlich, Mann! Stecken Sie die Kanone weg! So leicht werden Sie nicht davonkommen.«
Burckhardt umklammerte die Waffe noch fester. »Ich glaube schon.«
Dorchin sah wütend und gequält aus, aber er schien seltsamerweise keine Angst zu haben. »Verdammt.«, begann er zu brüllen, dann klappte er den Mund zu und schluckte. »Hören Sie mal«, sagte er in sanfterem Ton, »Sie irren sich. Wir haben niemanden gekidnappt, glauben Sie mir.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete Burckhardt. »Warum sollte ich?«
»Aber es ist wahr! Ich schwöre es Ihnen!«
Burckhardt schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie das mal dem FBI. Wir werden die Wahrheit schon noch herauskriegen. Also -wie kommt man hier raus?«
Dorchin öffnete den Mund, um zu protestieren.
»Stellen Sie sich mir nur ja nicht in den Weg!« schrie Burckhardt. »Wenn Sie mich dazu zwingen, werde ich Sie töten. Verstehen Sie mich? Ich habe zwei Tage lang in einer Hölle gelebt, und Sie sind für jede einzelne Sekunde dieser Tage verantwortlich. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie umzubringen, und ich habe nichts zu verlieren. Bringen Sie uns jetzt raus!«
Dorchins Gesicht wurde plötzlich ausdruckslos. Er sah aus, als wollte er eine Bewegung machen, aber da schob sich das blonde Mädchen namens Janet zwischen den Mann und den Revolver.
»Bitte!« flehte sie Burckhardt an. »Sie verstehen das nicht. Sie dürfen nicht schießen.«
»Gehen Sie mir aus dem Weg!«
»Aber Mr. Burckhardt.«
Sie konnte den Satz nicht mehr beenden. Dorchin wandte sich zur Tür um, immer noch mit ausdrucksloser Miene. Burckhardt sah sich bis zum Äußersten getrieben. Brüllend richtete er die Waffe auf Dorchin. Das Mädchen schrie auf. Er drückte ab. Wieder schob sich Janet zwischen den Mann und den Revolver, die Augen voller Mitleid.
Burckhardt hatte instinktiv nach unten gezielt, um nur zu verwunden und nicht zu töten. Aber er hatte nicht besonders gut gezielt.
Die Kugel traf das Mädchen in den Bauch. Dorchin war draußen, die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, seine Schritte verhallten in der Ferne.
Burckhardt schleuderte den Revolver quer durch den Raum und rannte zu dem Mädchen.
Swanson stöhnte. »Jetzt sind wir erledigt, Burckhardt. Oh, warum haben Sie das getan. Wir hätten entkommen können. Wir hätten zum FBI gehen können. Wir waren praktisch schon draußen. Wir.«
Burckhardt hörte ihm nicht zu. Er kniete neben dem Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, mit wirr ineinanderverschlungenen Armen. Aber da war kein Blut zu sehen - und kaum eine Wunde. Und kein menschliches Wesen wäre imstande, die Position einzunehmen, in der sie da auf dem Boden lag.
Und sie war nicht tot.
Sie war nicht tot - und Burckhardt kniete wie erstarrt neben ihr und dachte: Aber sie lebt auch nicht.
Da war kein Puls, aber ein rhythmisches Ticken in den ausgestreckten Fingern einer Hand.
Da war kein Atem zu hören - aber ein zischendes Geräusch.
Ihre Augen waren offen und blickten Burckhardt an. Weder Furcht noch Schmerz lagen darin, nur ein unendlich tiefes Mitleid.
Mit heftig zuckenden Lippen sagte sie: »Machen Sie - sich keine Sorgen um mich, Mr. Burckhardt. Ich - bin okay.«
Burckhardt setzte sich auf die Fersen und starrte sie an. An der Stelle, wo Blut herausquellen sollte, war ein Loch in einer Substanz, die kein Fleisch war. Und eine Kupferspirale ragte heraus.
Burckhardt fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Sie sind ein Roboter«, sagte er.
Das Mädchen versuchte zu nicken, der zuckende Mund flüsterte: »Ja, das bin ich. Genauso wie Sie.«