Swanson erzitterte, als hätten ihn die Worte wie Peitschenhiebe getroffen. Burckhardt schrie wutentbrannt: »Sie können ja ihn regulieren, wenn er das zuläßt - aber mich nicht! Sie werden mich ganz schön beschädigen müssen, Dorchin. Es ist mir egal, wie teuer ich Sie zu stehen komme oder wieviel Mühe es kostet, mich wieder zusammenzusetzen. Ich gehe jetzt durch diese Tür hinaus. Wenn Sie mich aufhalten wollen, müssen Sie mich töten.«
Der Stahlroboter machte einen halben Schritt auf ihn zu, und Burckhardt blieb unwillkürlich stehen. Er zitterte am ganen Körper, bereit, dem Tod ins Auge zu blicken, bereit zu kämpfen, auf alles vorbereitet, was da kommen mochte.
Auf alles war er vorbereitet - nur auf das nicht, was jetzt geschah. Denn Dorchins Stahlkörper trat beiseite, stellte sich zwischen Burckhardt und den Revolver, gab aber die Tür frei.
»Gehen Sie nur«, forderte die Stahlstimme ihn auf. »Niemand hält Sie zurück.«
Burckhardt ging über die Schwelle, dann blieb er stehen. Es war verrückt von Dorchin, ihn laufenzulassen. Ob er nun ein Roboter war oder ein Körper aus Fleisch und Blut, ob ein Opfer oder ein Günstling des Schicksals - nichts würde ihn daran hindern, zum FBI zu gehen oder zu irgendeiner anderen Behörde außerhalb von Dorchins künstlichem Reich und seine Geschichte zu erzählen. Sicher hatten die Firmen, die Dorchins Test finanzierten, keine Ahnung von der gespenstischen Methode, die er anwandte. Dorchin würde diese Technik vor seinen Auftraggebern geheimhalten, denn sonst würde die Öffentlichkeit Zeter und Mordio schreien. Burckhardt überlegte blitzschnell. Vielleicht bedeutete es den sicheren Tod, jetzt hinauszugehen. Aber in diesem Augenblick seines Pseudo-Lebens konnte ihn der Tod nicht erschrecken.
Niemand war auf dem Korridor zu sehen. Burckhardt fand ein Fenster und starrte hinaus. Da lag Tylerton, eine Ersatzstadt, aber sie wirkte so real und vertraut, daß er fast glaubte, die ganze Episode sei nur ein Traum gewesen. Doch es war kein Traum. Davon war er fest überzeugt, und er wußte auch, daß ihm niemand in dieser Stadt helfen konnte.
Er mußte die andere Richtung einschlagen.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis er einen Weg fand, aber er fand ihn. Er schlich durch Korridore, wich dem Klang von Schritten aus und wußte, daß sein Versteckspiel überflüssig war, denn Dorchin würde zweifellos jede Bewegung beobachten, die er machte. Aber niemand hielt ihn auf, und er fand eine weitere Tür.
Von innen sah sie ganz harmlos aus. Aber als er sie öffnete und hinaustrat, erwartete ihn ein Anblick, wie er ihn noch nie gesehen hatte.
Zuerst nahm er nur dieses Licht wahr - ein helles, unwahrscheinliches, blendendes Licht. Burckhardt blinzelte ungläubig und voller Angst.
Er stand am Rand einer glatten Metallfläche. Keine Dutzend Yards von seinen Füßen entfernt fiel eine Wand steil nach unten ab. Er wagte es nicht, sich diesem Abgrund zu nähern. Von seinem Standort aus sah er nur bodenlose Tiefe - und die riesige Schlucht erstreckte sich nach beiden Seiten hin, verlor sich im grellen Licht.
Kein Wunder, daß Dorchin ihm so bereitwillig die Freiheit geschenkt hatte. Es gab keinen Fluchtweg. Aber wie unglaublich war diese phantastische Schlucht, wie unmöglich waren die hundert weißen, strahlenden Sonnen, die darüber hingen.
An seiner Seite sagte eine Stimme in fragendem Ton: »Burckhardt?«
Burckhardt befeuchtete seine Lippen. »J-ja?« stotterte er.
»Hier ist Dorchin. Diesmal bin ich kein Roboter, sondern Dorchin in Fleisch und Blut. Ich spreche durch ein Mikrofon zu Ihnen. Nun haben Sie es gesehen, Burckhardt. Werden Sie jetzt vernünftig sein und sich in die Obhut des Instandhaltungs-Teams begeben?«
Burckhardt stand da wie gelähmt. Einer der beweglichen Berge in dem blendenden Licht kam auf ihn zu.
Er ragte viele Hundert Fuß hoch über seinem Kopf auf. Burckhardt starrte zum Gipfel hinauf, blinzelte hilflos in die grellen Strahlen.
Es sah aus wie.
Unmöglich!
Die Stimme, die aus dem Lautsprecher über der Tür kam, fragte drängend: »Burckhardt?« Aber er war unfähig zu antworten.
Ein tiefer Seufzer klang auf. »Ich sehe, daß Sie es verstanden haben.« sagte die Stimme. »Es gibt keinen Ort, wohin Sie gehen könnten. Das wissen Sie jetzt. Ich hätte es Ihnen sagen können, aber Sie hätten mir nicht geglaubt. Deshalb ist es besser, wenn Sie es mit eigenen Augen sehen. Und warum sollte ich die Stadt auch genauso wiederaufbauen, wie sie früher war? Ich bin ein Geschäftsmann. Wenn etwas seine natürliche Größe haben müßte, würde ich es so aufbauen. Aber das war in diesem Fall nicht nötig.«
Machtlos sah Burckhardt zu, wie sich eine Klippe vom Berghang löste und langsam zu ihm herabsank. Sie war lang und dunkel, und an einem Ende leuchtete etwas Weißes, Fünffingriges.
»Armer kleiner Burckhardt«, säuselte der Lautsprecher, und die Echos hallten durch den ungeheuren Abgrund, der nur eine Fabrikhalle war. »Es war sicher schrecklich für Sie, als Ihnen bewußt wurde, daß Sie in einer Stadt gelebt haben, die auf einer Tischplatte steht.«
Es war am Morgen des 15. Juni, und Guy Burckhardt erwachte schreiend aus einem Traum.
Es war ein unheimlicher, unbegreiflicher Traum gewesen, von Explosionen und Schattengestalten, die keine Menschen waren, von einem Grauen, für das es keine Worte gab.
Er schauderte und öffnete die Augen.
Vor seinem Schlafzimmerfenster heulte eine Stimme, von einem gewaltigen Lautsprecher verstärkt.
Burckhardt stand auf, taumelte zum Fenster und starrte hinaus. Es war kalt für die Jahreszeit - wie im Oktober. Aber der Anblick, der sich ihm bot, war relativ normal - abgesehen von dem Laster, der auf dem Platz stand und auf dessen Dach ein Lautsprecher montiert war.
»Sind Sie ein Feigling?« hallte es aus dem Trichter. »Sind Sie ein Narr? Werden Sie es zulassen, daß verbrecherische Politiker Ihr Land stehlen? Nein! Werden Sie diese Kriminalität, diese Korruption vier weitere Jahre lang dulden? Nein! Werden Sie hingehen und die Föderalistische Partei wählen? Ja! Wetten, daß Sie das tun werden?«
Manchmal schreit er, manchmal schmeichelt er, oder er droht, fleht, winselt - aber die Stimme dröhnt unablässig, Tag für Tag, jeden 15. Juni.
Der millionste Tag
An diesem Tag, von dem ich Ihnen erzählen will, an diesem Tag, der in etwa tausend Jahren anbrechen wird, lebten ein junger Mann und ein Mädchen, und daraus ergab sich eine Liebesgeschichte.
Wenn ich bisher auch nicht viel gesagt habe, so ist nichts davon wahr. Der junge Mann war nicht das, was Sie und ich uns normalerweise unter einem jungen Mann vorstellen würden, denn er war hundertsiebenundachtzig Jahre alt. Das Mädchen war auch kein Mädchen - aber aus anderen Gründen. Und die Liebesgeschichte beinhaltete nicht jene Sublimierung des Vergewaltigungstriebes und des gleichzeitigen Kampfes gegen diesen Instinkt, die wir derzeit mit solchen Dingen in Verbindung bringen. Die Geschichte wird Ihnen nicht viel sagen. Aber wenn Sie sich Mühe geben, werden Sie feststellen, daß die Story vollgestopft, gerammelt voll, bis zum Rand angefüllt ist mit Lachen und Tränen und jenem ergreifenden Gefühl, das unser Leben lebenswert macht - oder vielleicht auch nicht. Der Grund, warum das Mädchen kein Mädchen war, bestand darin, daß es ein Junge war.
Wie wütend Sie jetzt von dieser Seite aufschauen! Sie fragen, wer zum Teufel will denn was von Schwulen lesen? Beruhigen Sie sich! Hier werden keine wilden Perversionsgeheimnisse enthüllt, für die sich gewisse Cliquen interessieren würden. Also wirklich, wenn Sie das Mädchen sehen könnten, kämen Sie niemals auf den Gedanken, daß es ein Junge war. Brüste - zwei. Vagina - eine. Hüften - ausladend. Gesicht - unbehaart. Supraorbitale Lappen - nicht existent. Sie würden dieses Geschöpf sofort als weiblich einstufen, wenn Sie sich auch fragen würden, welcher Spezies sie angehört, denn der Schwanz und der seidige Pelz hinter den Ohren würden Sie irritieren.