Aber das Büro sah ganz normal aus - abgesehen von der Tatsache, daß Mr. Barth nicht da war. Miß Mitkin, die gähnend im Empfangszimmer saß, wußte nicht genau, warum Mr. Barth fehlte.
»Vielleicht ist er ins Werk gegangen. Das liegt ja in der Nähe seines Hauses.«
»Mag sein«, erwiderte sie desinteressiert.
Plötzlich fiel Burckhardt etwas ein. »Aber heute ist doch der 15. Juni! Heute kommt die vierteljährliche Steuererklärung. Er muß das Formular unterschreiben.«
Miß Mitkin zuckte mit den Schultern, um anzuzeigen, daß das Burckhardts Problem sei und nicht ihres, und widmete sich wieder ihrer Maniküre.
Beunruhigt ging Burckhardt zu seinem Schreibtisch. Nicht daß er das Formular nicht ebenso gut unterzeichnen könnte wie Barth. Aber das war ganz einfach nicht sein Job. Diese Verantwortung mußte Barth tragen, der Büromanager des Stadtbüros von Contro Chemical.
Er überlegte, ob er Barth in seinem Haus anrufen oder versuchen sollte, ihn in der Fabrik zu erreichen, aber diesen Plan ließ er rasch wieder fallen. Die Leute in der Fabrik waren ihm nicht sonderlich sympathisch, und je weniger Kontakt er mit ihnen hatte, desto besser.
Er war einmal mit Barth in der Fabrik gewesen - ein verwirrendes und in gewisser Weise auch beängstigendes Erlebnis. Abgesehen von ein paar leitenden Angestellten und Ingenieuren gab es dort keine Menschenseele - zumindest keine lebende Menschenseele, korrigierte sich Burckhardt, als er sich an Barths Erläuterungen erinnerte - nur die Maschinen.
Barth hatte ihm erklärt, daß jede Maschine von einem Computer kontrolliert wurde, der in seinem elektronischen Kauderwelsch den Gedächtnisinhalt und den Verstand eines menschlichen Wesens reproduzierte. Das war ein unangenehmer Gedanke. Barth hatte lachend versichert, es hätte überhaupt nichts mit Frankenstein zu tun, wenn man die Friedhöfe plünderte und menschliche Gehirne in Maschinen verpflanzte. Man würde nur menschliche Denkprozesse von Gehirnzellen in Vakuumröhrenzellen transferieren. Dem betreffenden Menschen tat das nicht mehr weh, und es würde die Maschine keineswegs in ein Monstrum verwandeln.
Trotzdem war Burckhardt sehr unbehaglich zumute, wenn er sich das alles vorstellte.
Er verbannte Barth und die Fabrik und all die anderen kleinen irritierenden Faktoren aus seinem Gehirn und widmete sich dem Steuererklärungsformular. Es war schon Mittag, als er endlich alle Zahlen überprüft hatte, eine Arbeit, die Barth mit Hilfe seines Gedächtnisses und seiner privaten Akten in zehn Minuten erledigt hätte, wie sich Burckhardt verdrossen klarmachte.
Er steckte das Formular in einen Umschlag und ging zu Miß Mitkin hinaus. »Da Mr. Barth nicht hier ist, gehen wir besser nacheinander essen«, sagte er. »Ich lasse Ihnen den Vortritt.«
»Danke.« Miß Mitkin nahm ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade und begann ihr Make-up zu erneuern.
Burckhardt reichte ihr das Kuvert. »Werfen Sie das in den Briefkasten, ja? Oh, Moment mal. Ich habe mir überlegt, ob ich Mr. Barth anrufen soll. Hat seine Frau gesagt, daß er Telefongespräche entgegennehmen kann?«
»Nein.« Miß Mitkin preßte ihre bemalten Lippen auf ein Kleenex-Tuch. »Seine Frau war gar nicht am Apparat. Es war seine Tochter.«
»Die Kleine?« Burckhardt runzelte die Stirn. »Aber die müßte doch in der Schule sein.«
»Ich weiß nur, daß sie angerufen hat.«
Burckhardt kehrte in sein Büro zurück und betrachtete angewidert die ungeöffnete Post, die auf seinem Schreibtisch lag. Er haßte Alpträume. Sie konnten einem den ganzen Tag verderben. Er hätte im Bett bleiben sollen - wie Barth.
Auf dem Heimweg hatte er ein merkwürdiges Erlebnis. An der Ecke, wo er gewöhnlich auf den Bus wartete, herrschte ein Riesenwirbel. Irgend jemand schrie etwas von einem neuen Tiefkühlgerät, und so ging er einen Häuserblock weiter. Aber hinter ihm rief jemand seinen Namen. Er blickte über die Schulter.
Ein kleiner Mann, der ziemlich unglücklich aussah, rannte ihm nach.
Burckhardt zögerte, dann erkannte er ihn. Es war ein flüchtiger Bekannter namens Swanson. Burckhardt stellte mürrisch fest, daß er seinen Bus verpaßt hatte.
»Hallo«, sagte er.
Verzweifelter Eifer verzerrte Swansons Gesicht. »Burckhardt?« fragte er mit seltsamer Eindringlichkeit. Und dann stand er ganz still da und beobachtete Burckhardts Mienenspiel, mit einem lebhaften Interesse, das sich zu einer schwachen Hoffnung verringerte und schließlich in düsterem Bedauern erstarb. Er sucht irgend etwas, wartet auf irgend etwas, dachte Burckhardt. Aber was immer Swanson auch wollte, Burckhardt wußte nicht, wie er diesen Wunsch erfüllen sollte. Er räusperte sich und sagte noch einmaclass="underline" »Hallo! Hallo, Swanson!«
Swanson erwiderte den Gruß nicht. Er seufzte nur tief auf.
»Nichts«, murmelte er, offenbar zu sich selbst. Er nickte Burckhardt geistesabwesend zu und wandte sich ab.
Burckhardt beobachtete, wie die hängenden Schultern des kleinen Mannes in der Menge verschwanden. Ein seltsamer Tag ist das, dachte er, ein Tag, der mir ganz und gar nicht gefallt. Heute läuft einfach alles schief.
Als er im nächsten Bus nach Hause fuhr, grübelte er darüber nach. Es war nichts Schreckliches, nichts Katastrophales - es war etwas, das nicht zu seinem Erfahrungsbereich gehörte. Man lebt sein Leben, wie jeder Mensch, und man bildet ein Netzwerk aus Eindrücken und Reaktionen. Man erwartet gewisse Dinge. Wenn man seinen Badezimmerschrank aufmacht, erwartet man, daß der Rasierapparat auf dem zweiten Regal steht. Wenn man seine Haustür absperrt, erwartet man, daß man zusätzlich am Griff ziehen muß, um sicherzugehen, daß das Schloß zuschnappt.
Es sind nicht die makellosen, vollkommenen Dinge des Lebens, die einem das Gefühl des Vertrauten geben. Es sind die fehlerhaften Dinge, das Schloß, das nicht richtig schließt, der Lichtschalter an der Treppe, auf den man zweimal drücken muß, weil die Feder alt und ausgeleiert ist, der Teppich, der einem immer wieder unter den Füßen wegrutscht.
Es lag nicht daran, daß irgendwelche Dinge in Burckhardts Leben nicht stimmten. Es lag daran, daß die falschen Dinge nicht stimmten. Zum Beispiel war Barth nicht ins Büro gekommen, obwohl Barth sonst immer kam.
Auch beim Dinner dachte Burckhardt darüber nach, obwohl seine Frau versuchte, ihn für eine Bridge-Partie mit den Nachbarn zu interessieren. Er dachte den ganzen Abend darüber nach. Die Nachbarn waren ihm sympathisch - Anne und Farley Dennerman. Er kannte sie schon sein Leben lang. Aber an diesem Abend waren sie auch so merkwürdig und nachdenklich, und er hörte kaum auf Dennermans Klagen über die schlechten Telefonleitungen und die Bemerkung seiner Frau, daß das Werbefernsehen in letzter Zeit widerlich sei.
Burckhardt war nahe daran, in einen chronischen Zustand der Geistesabwesenheit zu verfallen, als ihm gegen Mitternacht mit überraschender Plötzlichkeit bewußt wurde - es war ihm tatsächlich seltsam bewußt, während es geschah -, daß er sich in seinem Bett umdrehte und ziemlich schnell in einen tiefen Schlaf fiel.
Am Morgen des 15. Juni wachte Burckhardt schreiend auf. Es war realer als jeder Traum, den er jemals in seinem Leben gehabt hatte. Er konnte die Explosion immer noch hören, spürte die Kraft, die ihn gegen eine Wand schleuderte. Es schien ihm nicht richtig, daß er nun aufrecht in seinem Bett saß, in einem unversehrten Zimmer.