»Nett von Ihnen, daß Sie das arrangiert haben«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«
Wir fuhren mit dem Lift in das oberste Stockwerk und betraten einen Korridor, der mit Wandgemälden von Disney und Mother Goose geschmückt war. Von einer Sonnenterrasse drangen die Klänge einer Musicbox herein. Drei Kinder, die Fangen spielten, stürmten schreiend an uns vorbei. Sie kamen recht schnell voran, wenn man bedachte, daß zwei davon auf Krücken gingen. »Was machen Sie denn hier, zum Teufel?« rief Commander Whitling mit scharfer Stimme.
Ich sah zweimal hin, aber er redete weder mit mir noch mit den Kindern, sondern mit einem Mann, der ein junges Gesicht und einen dichten schwarzen Bart hatte. Er stand hinter einem Donald Duck-Mobile und schaute ziemlich schuldbewußt drein.
»Oh, hallo, Mr. Whitling«, sagte der Mann. »Ich habe mich offenbar schon wieder verirrt, als ich zum Kiosk wollte.«
»Carhart«, sagte der Commander gefahrlich leise, »wenn ich Sie noch einmal in dieser Abteilung erwische, können Sie den Kiosk für ein ganzes Jahr vergessen.«
»Okay, Mr. Whitling.« Als der Mann salutierte und sich mit gekränkter Miene abwandte, sah ich, daß der linke Ärmel seines Bademantels leer in einer Tasche steckte.
»Ständig muß man aufpassen, daß sie nicht hier reinkommen«, sagte Whitling seufzend. »Hier sind wir also, Mr. Gunnarsen. Jetzt können Sie sich alles anschauen.«
Ich blickte mich aufmerksam um. Da waren unzählige Kinder -humpelnde Kinder, stolpernde Kinder, bleiche Kinder, müde Kinder. »Was genau sehe ich eigentlich?« fragte ich.
»Die Kinder, Mr. Gunnarsen. Die Kinder, die wir befreit haben. Die Kinder, die von den Arcturern auf dem Mars gefangengenommen wurden.«
Und da klickte es in meinem Gehirn. Ich erinnerte mich, daß die Arcturer eine Marskolonie besetzt hatten.
Interstellare Kriege werden im Schneckentempo geführt, weil es so lange dauert, von einem Stern zum anderen zu fliegen. Die Hauptschlachten unseres Krieges mit den Arcturern waren in Erdennähe geschlagen worden - auf dem Mars - und die Flottengefechte rings um den Orbit des Saturn. Trotzdem hatte es vom Überraschungsangriff auf die Marskolonie bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages in Washington elf Jahre gedauert.
Ich erinnerte mich auch, daß ich eine rekonstruierte TV-Aufzeichnung von diesem Überraschungsangriff gesehen hatte. Es war an einem heißen Sommertag gewesen, um die Mittagszeit. Das Eis zerschmolz zu Wasser. Die kleine Kolonie rings um die Südlichen Quellen war der Schauplatz der Ereignisse. Aus der kleinen sinkenden Sonne tauchte ein Schiff auf.
Es war eine Rakete aus schimmerndem goldenem Metall, und sie kam herab, mit einer Gloriole aus Goldstrahlen rings um den auswärts gebogenen Bug, die wie die fleischigen Auswüchse an der Rüsselspitze eines Sternmull aussahen. Mit elektrischem Knistern landete die Rakete auf dem feinkörnigen orangegelben Sand, und die Arcturer stiegen aus.
Natürlich hatte damals noch niemand gewußt, daß es Arcturer waren. Sie hatten in einem langen, anekliptischen Orbit die Sonne umflogen, hatten das All beobachtet und studiert und sich den kleinen Marsaußenposten als Angriffsziel ausgesucht. Im Wirkungsbereich der Marsgravitation waren sie Zweibeiner. Zwei ihrer schleimigen Gliedmaßen genügten, um sie vom Boden zu erheben, mannshoch, in goldenen Luftdruckanzügen. Die Kolonisten kamen angelaufen, um sie zu begrüßen - und wurden getötet. Alle Erwachsenen.
Doch die Kinder waren nicht getötet worden - jedenfalls nicht so schnell oder leichtfertig. Einige waren überhaupt nicht getötet worden - und ein Teil dieser Kinder war jetzt in der Donnegan-Klinik.
Aber nicht alle.
Langsam begann mein kleines Gehirn zu begreifen, und ich sagte: »Das sind also die Überlebenden.«
»Die meisten, Gunner«, erwiderte Candace, die dicht neben mir stand. »Die Kinder, die so krank sind, daß sie nicht ins normale Leben zurückgeschickt werden können.«
»Und die anderen?«
»Nun, die haben keine Familien mehr. Ihre Verwandten wurden ja alle getötet. Also wurden sie hier in Beiport adoptiert. Hundertundacht - stimmt das, Tom? Vielleicht begreifst du jetzt so ungefähr, worauf du dich eingelassen hast, Gunner.«
In dieser Abteilung waren etwa hundert Kinder untergebracht. Aber ich sah sie nicht alle. Einige konnte man nicht sehen.
Whitling erzählte mir davon, aber er konnte mir den Bluttemperaturraum, in dem die kleinsten Kinder und die schlimmeren Fälle lebten, nicht zeigen. Man hatte dort eine gnotobiotische Atmosphäre erzeugt, etwas sauerstoffhaltiger und feuchter als die normale Luft. Ein verstärkter Luftdruck unterstützte den schwachen Metabolismus der Kinder, so daß sich der Sauerstoff gleichmäßig in allen Körperteilen ausbreiten konnte. Rechts von diesem Raum befanden sich die kleinen Einzelzimmer, wo die allerschlimmsten Fälle lagen. Die Ansteckenden. Die Unheilbaren. Die Unglücklichen, deren bloßes Auftauchen für die anderen schädlich wäre. Whitling war so freundlich, die Polarisatorläden zu öffnen, so daß ich mir einige der Kinder ansehen konnte, die da lagen - oder sich wanden oder steif wie Stöcke dastanden -, in permanenter Einsamkeit. Die Arcturer hatten ihre Bemühungen unter anderem auf Transplantationen gerichtet, und das Projekt mußte von einem sehr absonderlichen Geist ersonnen worden sein. Das jüngste Kind war etwa drei, das älteste achtzehn oder neunzehn.
Es war ein irritierender Anblick, und ich verzichte darauf, meine Gefühle zu kommentieren, da es ohnehin offenkundig ist, was ich gefühlt habe.
Kinder in Nöten. Natürlich, die Kinder, die man wieder ins normale Leben integriert hatte, waren nicht so schlimm dran wie diese hier. Aber ihr Anblick griff einem ans Herz. Auch ich war nicht immun dagegen. Und jedesmal, wenn ein Adoptivelternpaar oder deren Nachbarn oder Passanten, die den Kindern zufällig auf der Straße begegneten, dieses Ziehen in der Herzgegend spürten, würden sie nur einen einzigen Gedanken denken - das haben die Arcturer getan.
Denn nach dem Mord an den potentiell gefahrlichen Erwachsenen hatten sie die wehrlosen Kinder als wertvolle Forschungsobjekte in Käfige gesperrt.
Und ich hatte gehofft, ich könnte mit fünfhundert arcturischen Haustieren dagegen angehen.
Whitling führte mich durch die Abteilung, und ich hörte es seiner Stimme an, wie sehr er mein Tun verabscheute, denn er liebte diese Kinder und bemitleidete sie. »Hallo, Terry!« sagte er auf der Sonnenterrasse, beugte sich über ein Bett und streichelte das schneeweiße Haar des kleinen Patienten. Terry sah lächelnd zu ihm auf. »Er kann uns natürlich nicht hören«, sagte Whitling. »Wir haben ihm vor vier Wochen neue Gehörnerven eingepflanzt - ich habe es selbst getan. Aber sie haben nicht überlebt. Es war schon der dritte Versuch. Natürlich stellt jeder Versuch ein größeres Risiko dar als der vorangegangene -wegen der Antikörper.«
»Er sieht nicht älter aus als fünf.«
Whitling nickte.
»Aber der Angriff auf die Kolonie war doch.«
»Oh, ich verstehe, was Sie meinen«, unterbrach er mich. »Die Arcturer waren natürlich auch an der Fortpflanzung interessiert. Ellen, die uns vor zwei Wochen verließ, war erst dreizehn. Aber sie hatte sechs Kinder. Und das ist Nancy.«
Nancy war vielleicht zwölf, hatte aber den Gang und die Armbewegung einer Zweijährigen. Sie kam hereingestolpert, auf der Jagd nach einem Ball, und starrte mich voller Abneigung und Mißtrauen an. »Nancy ist einer der Fälle, die wir heilen konnten«, sagte Whitling stolz. Er sah meinen ungläubigen Blick und fügte hinzu: »Oh, das ist nicht schlimm. Sie ist auf dem Mars aufgewachsen und hat sich noch nicht an die Erdenschwerkraft gewöhnt. Sie ist nicht langsam - aber der Ball springt ihr zu schnell davon. Und hier ist Sam.«
Sam war etwa zehn und lag kichernd in seinem Bett, wo er die offenbar sehr ermüdende Turnübung machte, den Kopf von der Matratze zu heben. Eine Krankenschwester in rotweiß gestreifter Tracht zählte die Sekunden, während er mit der Brust das Kinn berührte - eins - und - zwei, eins - und - zwei. Er machte es fünfmal, dann ließ er grinsend den Kopf zurücksinken.