»Heiliger Himmel«, betete Burckhardt. Das war in der Tat äußerst seltsam. Er hörte den Wecker seiner Frau schrillen und rannte die Stufen hinauf.
Mary Burckhardt saß im Bett, mit einem entsetzten, verständnislosen Blick, als wäre sie soeben aus einem Alptraum erwacht.
»Oh!« rief sie, als ihr Mann ins Zimmer stürzte. »Liebling! Ich hatte einen schrecklichen Traum. Es war wie eine Explosion und.«
»Schon wieder?« fragte Burckhardt, ohne besonderes Mitleid zu zeigen. »Mary, da stimmt was nicht. Ich wußte es schon gestern und.«
Er erzählte ihr von der Kupferzelle, in die sich der Keller verwandelt hatte, von der seltsamen Holzmasse, die sich in seinem Boot befand. Mary sah ihn zuerst erstaunt an, dann alarmiert und schließlich besänftigend und etwas unbehaglich.
»Bist du ganz sicher, Liebling?« fragte sie. »Ich habe diese alte Kiste nämlich erst letzte Woche saubergemacht, und dabei ist mir nichts aufgefallen.«
»Ich bin ganz sicher«, sagte Guy Burckhardt. »Ich rückte sie vor den Sicherungskasten und stieg darauf, um die neue Sicherung einzuschrauben, weil wir gestern den Kurzschluß hatten, und da.«
»Nachdem wir - was?« Nun war Mary ernsthaft erschrocken.
»Nachdem das Licht ausging. Du weißt doch, als der Schalter an der Treppe streikte. Ich ging in den Keller und.«
Mary setzte sich kerzengerade im Bett auf. »Guy, der Schalter hat nicht gestreikt. Ich habe doch gestern abend selber das Licht ausgemacht.«
Burckhardt starrte seine Frau an. »Aber ich weiß doch, daß du das nicht getan hast. Komm mal mit und schau dir das an!«
Er stapfte in den Flur hinaus, zeigte dramatisch auf den kaputten Schalter an der Treppe, den er gestern abend losgeschraubt und hängen gelassen hatte.
Aber der Schalter sah so aus wie immer. Ungläubig drückte Burckhardt darauf, und das Licht ging an.
Mary ging bleich und mit gerunzelter Stirn in die Küche hinunter, um das Frühstück zu machen. Burckhardt stand minutenlang vor dem Schalter und starrte ihn an. Seine Denkprozesse hatten die Grenze des Unglaubens und des Schreckens längst überschritten.
Er rasierte sich, zog sich an und aß sein Frühstück, in dumpfes Grübeln versunken. Mary störte ihn nicht. Sie beobachtete ihn nur besorgt und lächelte ihm hin und wieder beruhigend zu. Sie gab ihm einen Abschiedskuß, und dann rannte er zum Bus hinaus, ohne ein einziges Wort geäußert zu haben.
Miß Mitkin, die im Vorraum an ihrem Schreibtisch saß, begrüßte ihn mit einem Gähnen. »Guten Morgen«, murmelte sie schläfrig. »Mr. Barth kommt heute nicht.«
Burckhardt wollte etwas sagen, aber er schluckte es gerade noch rechtzeitig hinunter. Sie konnte ja nicht wissen, daß Barth auch gestern nicht da gewesen war, weil sie gerade das Kalenderblatt mit der Aufschrift ,14. Juni' abriß. Der ,15. Juni' kam zum Vorschein.
Er taumelte zu seinem Schreibtisch und starrte ohne etwas sehen auf die Morgenpost. Sie war noch nicht geöffnet worden, aber er wußte, daß der Umschlag vom Verteilerbüro der Firma eine Bestellung für zwanzigtausend Fuß von den neuen akustischen Röhren enthielt und der Brief von Finebeck & Söhne eine Beschwerde.
Nach einiger Zeit zwang er sich, die Umschläge zu öffnen. Der Inhalt entsprach seinen Erwartungen.
Zu Mittag veranlaßte Burckhardt, getrieben von einer seltsamen Verzweiflung, daß Miß Mitkin zuerst essen ging. Am gestrigen 15. Juni war er als erster gegangen. Sie verließ ihr Zimmer, vage besorgt, weil er mit ungewohnter Beharrlichkeit auf dieser Regelung bestanden hatte. Aber es war ihm völlig gleich, was sie dachte.
Das Telefon klingelte, und Burckhardt griff nach dem Hörer. »Contro Chemical-Stadtbüro, Burckhardt.«
»Hier ist Swanson«, sagte eine Stimme und verstummte dann.
Burckhardt wartete. Als die Stimme nicht weitersprach, rief er: »Hallo?«
Eine lange Pause entstand. Dann fragte Swanson in trauriger Resignation: »Noch immer nichts, eh?«
»Was soll denn sein? Swanson, wollen Sie irgendwas? Sie sind gestern schon auf mich zugekommen und haben diese komische Nummer abgezogen. Sie.«
»Burckhardt!« unterbrach ihn die heisere Stimme. »Oh, du lieber Himmel, Sie erinnern sich! Bleiben Sie, wo Sie sind - ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
»Was hat das denn zu bedeuten?«
»Regen Sie sich nicht auf!« jubelte der kleine Mann. »Ich erkläre Ihnen alles, wenn ich bei Ihnen bin. Sagen Sie nichts mehr am Telefon - vielleicht wird das Gespräch mitgehört. Warten Sie auf mich. Moment mal, werden Sie allein in Ihrem Büro sein?«
»Nein. Wahrscheinlich wird Miß Mitkin.«
»Verdammt! Hören Sie mal, Burckhardt, wo essen Sie zu Mittag? Bekommt man dort einen guten Lunch? Und ist das Lokal sehr laut?«
»Nun, ich nehme es an. Im Crystal Cafe nur einen Häuserblock weiter.«
»Ich weiß, wo das ist. Wir treffen uns dort, in einer halben Stunde.« Und es klickte in der Leitung.
Das Crystal Cafe war nicht mehr rot gestrichen, aber es war immer noch ziemlich warm. Und neuerdings gab es Musik mit Werbeeinschaltungen. Man machte Reklame für Frosty-Flip und Mariin-Zigaretten - »Gesundheitszigaretten«, flötete der Sprecher - und für irgendwelche »Schokoladehappen«, von denen Burckhardt noch nie gehört hatte. Aber er sollte sehr bald sehr viel davon hören.
Während er auf Swanson wartete, kam ein Mädchen ins Restaurant, im Celophanröckchen einer NachtklubZigarettenverkäuferin. Sie trug ein Tablett mit winzigen, in scharlachrotes Papier eingewickelten Süßigkeiten.
»Schokohappen schmecken toll«, murmelte sie, als sie auf seinen Tisch zukam. »Schokohappen schmecken toller als toll.«
Burckhardt, der nach dem seltsamen kleinen Mann Ausschau hielt, schenkte ihr keine Beachtung. Aber als sie eine Handvoll Schokohappen auf den Nebentisch warf und die Leute anlächelte, die dort saßen, schaute er zu ihr hinüber - und blinzelte.
»Miß Horn!« rief er überrascht.
Das Mädchen ließ das Tablett fallen.
Burckhardt sprang besorgt auf. »Stimmt was nicht?«
Aber da ergriff sie schon die Flucht.
Der Manager des Restaurants starrte mißtrauisch auf Burckhardt, der nun auf seinen Sessel zurücksank und möglichst unbeteiligt dreinzuschauen versuchte. Er hatte dem Mädchen doch nichts getan. Vielleicht war sie eine streng erzogene junge Dame, trotz der langen nackten Beine unter dem Cellophanröck-chen, und als er sie angesprochen hatte, war sie wohl der Meinung gewesen, daß er was Unanständiges von ihr wollte.
Lächerlich. Burckhardt runzelte unbehaglich die Stirn.
»Burckhardt!« Es war ein schrilles Wispern.
Burckhardt blickte über den Rand der Speisekarte hinweg und zuckte zusammen. Ihm gegenüber saß der kleine Mann namens Swanson, sichtlich nervös.
»Burckhardt!« wisperte er noch einmal. »Verschwinden wir von hier! Die sind hinter Ihnen her! Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann kommen Sie mit mir!«
Es hatte keinen Sinn, mit dem Mann zu debattieren. Burckhardt bat den Manager, der drohend herannahte, mit einem kraftlosen Lächeln um Entschuldigung und folgte Swanson nach draußen. Der kleine Mann schien genau zu wissen, wohin er wollte. Auf der Straße angelangt, packte er Burckhardts Ellenbogen und zerrte ihn eilig zur nächsten Ecke.
»Haben Sie das Mädchen gesehen?« fragte er. »Diese Miß Horn
- da drüben in der Telefonzelle? Glauben Sie mir, in fünf Minuten sind die anderen hier. Wir müssen uns beeilen.«
Obwohl die Straße voller Menschen und Autos war, achtete niemand auf Burckhardt und Swanson. Es war kalt, fast wie im Oktober. Und das trotz der Wettervorhersage, dachte Burckhardt. Und er kam sich wie ein Narr vor, weil er diesem verrückten kleinen Mann die Straße hinab folgte und vor irgendwelchen mysteriösen Leuten davonlief. Wohin führte ihn der Kerl? Er mochte irrsinnig sein, aber er hatte Angst. Und Angst ist ansteckend.
»Da hinein!« stieß der kleine Mann keuchend hervor.