Ich hatte die Kette gehoben und wickelte sie ihr um den Hals. Sie sollte das Gewicht spüren. Die Schlingen würden auf den ersten Blick nicht erkennen lassen, daß sie keinen Sklavenkragen umhatte. Die Kette war mit zwei roten Streifen versehen. Ich drückte den Haken des Schlosses durch zwei Kettenglieder und ließ es zuschnappen. Ich sah das Mädchen an. Sie war nur ein Teil des Ketten-Schienen-Systems der Station.
»Ich bin Lady Graciela Consuelo Rosa Rivera-Sanchez!« sagte sie.
»Halt den Mund, Pepita!« fuhr ich sie an.
Ihr stockte hörbar der Atem. Dann sagte sie: »Nein! Zwing mich nicht, so außerhalb der Wohnung herumzulaufen!«
Ich stieß sie durch die Tür in den Korridor hinaus. Bedrückt sah sie mich an. Sie erkannte, daß ich überall mit ihr hingehen konnte.
So hatte ich nun eine Führerin, die sich in der Station auskannte. Außerdem mußte die rote Seide jeden Verdacht zerstreuen. Eine Sklavin in roter Seide ist in einer goreanischen Festung kein ungewöhnlicher Anblick. Probleme mochte es lediglich durch die Tatsache geben, daß sie trotz des Alarms nicht an einem sicheren Ort verwahrt war. Wenn die Korridore elektronisch überwacht wurden, ließ sich auf den Bildschirmen sicher nicht erkennen, daß mein Mädchen keinen Sklavenkragen und auch am Schenkel kein Brandzeichen trug.
»Gibt es im roten Schienensystem einen Endpunkt, der weiter abgelegen ist als andere?« fragte ich.
»Ja.«
Ihre Antwort überraschte mich.
»Bring mich dorthin!«
Sie richtete sich auf. »Nein!« sagte sie. Doch im nächsten Augenblick bohrte ich ihr den Lauf meines Pfeilgewehrs in den Leib. »Du wagst es nicht zu schießen!« flüsterte sie.
»Du bist nur eine Frau«, sagte ich.
»Ich bringe dich hin!« sagte sie hastig. »Aber es nützt dir nichts, denn außerhalb des Schienenbereichs ist der Zutritt für Menschen verboten.«
»Welche Richtung?« fragte ich.
Ihre Augen gaben mir die Antwort.
Mit heftiger Bewegung stieß ich sie in diese Richtung.
»Schneller!« sagte ich. Mit hastigen Schritten gingen wir durch den Korridor.
»Wenn wir an Männern vorbeikommen, brauche ich nur ein Wort zu rufen«, sagte sie.
»Tu das«, sagte ich, »dann hängst du nur noch mit der Hälfte deines Körpers an der Kette.«
Eine der Deckenkameras drehte sich in unsere Richtung.
»Beeil dich, Kajira!« sagte ich. »Du hättest längst angebunden sein müssen.«
Die Kamera drehte sich weg.
Mehrere Ehn lang hasteten wir durch die Korridore. Manchmal stiegen wir Treppen hinab. Sie schwitzte und keuchte vor Anstrengung. Die Kette wog schwer auf den Schultern. »Schneller, Pepita!« sagte ich.
In einer Ebene vier Stockwerke unter der Mitteletage sahen wir vier Männer näherkommen.
»Geh zu!« sagte ich zu ihr.
Ich ging neben ihr und versuchte den Blick auf ihren linken Oberschenkel zu verstellen.
Sie erschauderte, als sie die Blicke der Männer bemerkte. Einer lachte. »Ein neues Mädchen«, sagte er.
Von diesem Punkt dauerte es nur noch vier Ehn bis zum Ende des Schienen Systems.
»Dies ist der am weitesten außen liegende Punkt im System«, sagte sie. Ihre Kette hing herab. »Ab hier ist Sperrgebiet.«
»Hast du die anderen Wesen gesehen, die keine Menschen sind?« fragte ich.
Ich wußte, es gab nur wenige Kurii in der Station.
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich weiß, daß es sich um Außenweltler handelt. Zweifellos ähneln sie dem Menschen, vielleicht sind sie von uns gar nicht zu unterscheiden.«
Ich lächelte. Sie hatte die Ungeheuer, denen sie diente, noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.
»Ich habe dich hergeführt«, sagte sie. »Jetzt gib mich frei!«
Ich öffnete das Schloß und wickelte ihr die Kette vom Hals. Aber sofort vergrub ich meine Finger in ihrem Hals. »Zum Freilassen bist du viel zu hübsch!« sagte ich.
Dann schob ich sie vor mir her den Korridor entlang, über den Schlußpunkt des Schienensystems hinaus.
Entsetzt drehte sie sich unter meinem Griff. »Menschen dürfen diese Zone nicht betreten!« sagte sie.
»Geh voraus!« befahl ich.
Ächzend kam das Mädchen meinem Befehl nach.
Mir fiel auf, daß dieser Teil des Korridors nicht mehr von Kameras überwacht wurde. Das stimmte mich unbehaglich. Die Dinge entwickelten sich zu glatt. Eine Stahltür bildete das Ende des Gangs. Ich hatte vermutet, daß der Vernichtungsapparat außerhalb der Reichweite von Sklaven lagern mußte, und in einer Zone, die dem Überwachungssystem verschlossen war, wenn auch zuweilen für Menschen zugänglich. Doch jetzt war ich besorgt.
Ich versuchte die Tür am Ende des Korridors zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Ich schob sie mit dem Kolben der gewehrartigen Waffe auf.
Ich blickte das Mädchen an, dann schob ich sie neben mir durch die Öffnung.
Vor uns lag ein ganz normal aussehender Lagerraum von beträchtlicher Größe. Er war angefüllt mit Kisten, deren Beschriftungen ich nicht lesen konnte. Einige Kisten waren offen, andere noch vernagelt. Sie schienen Maschinen und Ersatzteile zu enthalten. Zwischen den Kisten waren schmale Korridore.
Als ich ein Geräusch vernahm, ließ ich das Mädchen los und hob mit beiden Händen die Waffe.
Eine schwarzgekleidete Gestalt stand auf mehreren Kisten, hoch über uns. »Er ist nicht hier«, sagte er.
»Drusus!« rief ich. Ich erinnerte mich deutlich an den Attentäter, den ich im Sand der kleinen Arena besiegt hatte.
Er trug ein Pfeilgewehr.
»Leg die Waffe fort, aber langsam!« befahl ich.
»Er ist nicht hier«, sagte der Mann. »Ich habe danach gesucht.«
»Leg die Waffe fort!« befahl ich.
Er legte sie vor sich auf die Kiste.
»Was tust du hier?« fragte ich.
»Vermutlich dasselbe wie du«, antwortete er. »Ich habe nach dem Hebel oder Schlüssel oder Rad gesucht, nach dem Instrument, mit dem man diesen Ort vernichten kann.«
»Du dienst den Kurii«, stellte ich fest.
»Nicht mehr«, sagte er. »Ich habe gekämpft und wurde von einem Gegner geschont, der ein Mann ist. Ich habe lange darüber nachgedacht. Vielleicht bin ich zu schwach, ein Attentäter zu sein, doch vielleicht habe ich die Kraft, als Mann durchs Leben zu gehen.«
»Woher soll ich wissen, daß du die Wahrheit sagst?«
»Vier Kurii waren hier«, sagte er, »um diesen Ort zu bewachen, um jeden aufzuhalten, der hierher wollte. Ich brachte sie um.«
Er deutete auf einen Gang zwischen den Kisten. Ich roch Kur-Blut. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Das Mädchen neben mir machte kehrt und drückte sich plötzlich erschaudernd an mich.
»Viermal habe ich geschossen, vier Kurii habe ich getötet«, sagte der Attentäter.
»Schildere mir, was du siehst«, forderte ich das Mädchen auf.
»Dort liegen vier Ungeheuer, oder Teile von Ungeheuern«, sagte sie. »Drei hier, und eines dahinter.«
»Nimm deine Waffe!« sagte ich zu Drusus.
Er nahm sie an sich. Dann sah er die Frau an. »Eine hübsche Sklavin«, sagte er.
»Ich bin keine Sklavin«, gab sie scharf zurück, »sondern eine freie Frau! Ich bin Lady Graciela Consuelo Rosa Rivera-Sanchez!«
»Amüsant«, sagte er und stieg von den Kisten.
»Ich hatte angenommen, daß sich der Sprengsatz, wenn es ihn gibt, hier befinden würde.«
»Ich auch.«
»Wenn ihr das Gerät auslöst, sterben wir alle!« sagte das Mädchen.
»Die Invasion muß verhindert werden«, sagte ich.
»Die Bombe darf nicht explodieren!« rief sie. »Wir würden alle ums Leben kommen, ihr Dummköpfe!«
Ich gab ihr einen Schlag ins Gesicht. Erschrocken sah sie mich an. »Es wäre wohl ratsam, wenn du künftig um Erlaubnis fragst, ehe du etwas sagst.«
Sie senkte den Kopf.
»Auf einem Auktionsblock würde sie sich gut machen«, stellte Drusus fest.
»Ja.«
»Was machen wir jetzt?«
In diesem Augenblick schloß sich die große Stahltür, durch die wir eingetreten waren. Es mußte sich um einen automatischen Vorgang handeln, denn es war niemand zu sehen. Das Rad auf unserer Seite der Tür drehte sich summend und verriegelte den Durchgang. Gleichzeitig senkte sich von der Decke ein milchig-weißes Gas herab.